Die Lutter

NAME:
Die Lutter

BÜRGERLICHER NAME:
Kay Lutter

INSTRUMENT:
Bass

WOHNORT:
Berlin

MITGLIED BEI IN EXTREMO SEIT:
1996

LIEBLINGSALBUM VON IN EXTREMO:
Mein rasend Herz

LIEBLINGS LIVE-SONG VON IN EXTREMO:
Mein rasend Herz

BESTE SHOW MIT IN EXTREMO:
Jedes Jahr in Moskau

ZUKUNFTSWUNSCH FÜR IN EXTREMO:
4 Wochen Russland

DIE SCHÖNSTE ZEIT mit In Extremo. Ich will jetzt gar nicht mit einer dieser üblichen und schrägen Geschichten von irgendeinem Festival der vergangenen Jahre anfangen, bei dem wir zu Gast waren oder gar mit dem Gefühl prahlen, wie es denn so ist, wenn man vor 20.000 und mehr Leuten auf einer riesigen Bühne steht. Hast du noch Lampenfieber? Welches war dein schönstes Konzerterlebnis? Was ist die schönste Geschichte, die du je erlebt hast? Sorry, ich kann diese Fragen einfach nicht mehr hören, bitte verzeiht! Aber soll ich ganz ehrlich sein? Die schönste Zeit mit In Extremo war unter dem Strich die Zeit, in der ich gar nicht da war. Das klingt auf den ersten Blick vielleicht nicht besonders liebevoll, aber der erste Eindruck täuscht ja oft im Leben. Warum ausgerechnet das die beste Zeit war, will ich auch kurz erzählen:

Es gibt wohl nichts Schlimmeres im Beruf eines Musikers, als in irgendwelchen feuchten Proberaumkellern ewig und drei Tage auf seine Kollegen warten zu müssen. Bei Künstlern gilt anscheinend das Motto: Wer zuerst kommt, der ist selber schuld und würde man die Zeit addieren, die man sinnloser Weise mit Biertrinken, dem Vernichten ganzer Stangen an Zigaretten und dem Finden einer annehmbaren Sitzposition auf diversen vergammelten – und eigentlich schon vor langer Zeit ausgesonderten Möbelstücken – vertan hat, dann kämen mit Sicherheit Jahre zusammen. Und wie oft schon habe ich versucht, dem Musikexpress aus dem Jahre 2002 irgendetwas abzugewinnen, wie oft habe ich feststellen müssen, dass man mit den Kreuzworträtseln in der B. Z. viel zu schnell fertig ist? Sich nachmittags um vier Uhr treffen zu wollen bedeutet in der Regel nichts anderes, als das man frühestens abends um Sieben das erste Mal ein Instrument in der Hand hält. Nicht anders läuft es, wenn man auf Tour ist, denn die meiste Zeit besteht aus warten, warten und nochmals warten. Man wartet auf das Frühstück, man wartet auf die Garderobe, danach wartet man auf den Soundcheck und anschließend darauf, dass es endlich einmal losgeht.

In der Zwischenzeit versucht man die Zeit, mal mehr, mal weniger sinnvoll, totzuschlagen, bis man zum dritten Mal feststellt, dass das mitgebrachte Buch extrem langweilig und die Innenstadt von München knappe 10 Kilometer entfernt ist. Glaubt bloß nicht, dass es nur bei In Extremo so zugeht, denn ich kenne keine Band der Welt, bei der es anders läuft. Zufällig fiel mir während der ganzen Warterei in unserem Proberaum einmal ein Magazin in die Hände, in dem Bill Wyman, seines Zeichens Gründungsmitglied der Rolling Stones, in einem Interview nach der schlimmsten Zeit seiner Karriere gefragt wurde. Es war, wie sollte es auch anders sein, die Warterei.

Anfang 2003 hatte meine Familie beschlossen für ein paar Jahre nach Malaysia überzusiedeln. Das war nicht gerade um die Ecke, denn das Festland von Malaysia, auf dem sich auch die Hauptstadt Kuala Lumpur befindet, liegt zwischen der Straße von Malakka und dem Südchinesischen Meer und hat die Nachbarn Thailand, Indonesien und Singapur zur Seite. Wir zogen in die Stadt Petaling Jaya, die quasi ein Vorort von Kuala Lumpur ist und im Bundesstaat Selangor liegt. Wenn ich einen Blick auf meine neue Anschrift warf, dann konnte ich es immer noch kaum glauben: Kay Lutter, Jalan Gasing 5/20, 46000 Petaling Jaya, Selangor Darul Ehsan.

Am Anfang hatte ich einige Zweifel, ob mir der Spagat zwischen beiden Welten so einfach gelingen würde, denn immerhin waren knappe 10.000 km Luftlinie zu überwinden, es gab, je nach Sommerzeit, 6 bis 7 Stunden Zeitunterschied und die Flugzeit betrug bei der schnellsten Verbindung knappe 16 Stunden. Egal, ich musste das einfach ausprobieren. Auf was wollte ich denn noch warten?

Plötzlich schaute aus meinem Fenster direkt auf den Dschungel am Stadtrand von Kuala Lumpur, wurde von den Glöckchen des nahen indischen Tempels geweckt oder lauschte entspannt dem Rufen des Muezzins. Dann nahm ich mir ein Blatt Papier, setzte mich auf den Balkon oder an den Pool und schrieb Texte oder Geschichten, während ich die Makaken beobachtete, die wild in den Palmen umher turnten. Und wenn mir danach war, dann schnappte ich mir meinen Bass, setzte mich auf das Motorrad und fuhr zu meinen Freunden, die in einem Musikladen arbeiteten, wo wir ab und an zusammen jammten und jeden Mittag die abenteuerlichsten Gerichte der Welt ausprobierten.

Und ich freute mich auf In Extremo, denn mit einem Mal sortierten sich die Dinge wie von selbst: Die Anrufe wurden weniger und dafür wichtiger, ich blieb bei den oftmals zermürbenden Banddiskussionen mit einem Mal außen vor, stattdessen schickten wir uns regelmäßig Mails mit neuen Ideen. Und wie durch ein Wunder war ich nun auch nicht mehr in jeder, mich nicht betreffenden Mail, in Kopie. Es war einfach traumhaft. Was ein Abstand so alles bewirken konnte?

Wenn ich nach zurück nach Deutschland flog, dann probte die Band nun konzentriert am Stück, wenn wir eine Tour vorbereiteten, dann legten wir die Probetermine so, dass es nicht viel Leerlauf gab und wenn wir tourten, dann buchte ich stets den letztmöglichen Flieger in die kalte Heimat, denn ich wollte meine Zeit in Asien soweit es ging ausreizen, auch wenn es mir nach ein paar Monaten schon dämmerte, dass es so nicht bis in alle Ewigkeit weitergehen konnte. Trotzdem: Es war ein unbeschreibliches Gefühl hier in Malaysia zu wohnen und in einer Band in Deutschland zu spielen.

Irgendwann kam ich natürlich in die Situation, dass Konzerte verlegt wurden und ich mir etwas einfallen lassen musste. Das sah dann oftmals so aus: Donnerstagabend kurz vor Mitternacht Abflug von Kuala Lumpur nach Frankfurt/ Main, Ankunft früh um sieben Uhr, dann ging meist es mit dem Mietwagen weiter und ich war pünktlich zum Soundcheck vor Ort. Sonntag gegen Mittag schaffte ich meist den Rückflug von Frankfurt/Main zurück nach Malaysia und wenn ich auf dem Flughafen in Kuala Lumpur am frühen Morgen Glück mit den Taxis hatte, dann konnte ich kurz vor Neun am Vormittag bei 32 Grad schon in den Pool springen. Irgendwann kam ich auf die Idee den Schwierigkeitsgrad noch etwas zu erhöhen, sodass ich damit begann, meine Uhr nicht mehr umzustellen, sondern die ganze Zeit über konsequent weiter nach asiatischer Zeit zu leben. Es funktionierte tadellos, auch wenn sich meine Kollegen manchmal wunderten, dass ich früh um Fünf spazieren ging, weil ich nicht schlafen konnte.

Auf der knapp einstündigen Fahrt von Kuala Lumpur zum Flughafen hing ich oftmals meinen Gedanken nach, was von Vorteil war, denn die malaiischen Taxifahrer sprachen oftmals nur ein sehr übersichtliches Englisch. Also blieben die Themen Regenzeit und Essen, das absolute Lieblingsthema aller Malaien. Eines schönen Abends, nach einem schweren Sturm waren viele Palmen am Straßenrand umgeknickt, wagte sich auch ein einsames Wildschwein an den Straßenrand, was mein Fahrer mit einem verächtlichen Grunzen quittierte, worauf ich versuchte zu erklären, dass wir diese Viecher in Deutschland gerne essen würden. Mein Gespräch war an diesem Punkt abrupt beendet und ich musste nicht weiter interessiert tun. Ich schaute also entspannt aus dem Taxifenster, starrte ein letztes Mal auf die Temperaturanzeige an der Autobahn, die auch am Abend noch stolze 30 Grad bekanntzugeben hatte, genoss die immer kleiner werdenden Lichter von Malaysias Hauptstadt und dachte daran, dass meine Kollegen in Berlin auch schon so langsam ihre Sachen packen mussten, um in nicht allzu langer Zeit in den Nightliner zu steigen, der sie nach Wien, München oder Karlsruhe brachte. Wenn man es also nüchtern betrachtete, dann war ich nicht viel länger unterwegs als der Rest der Band.

Doch irgendwann beschlossen wir wieder nach Berlin zurückzugehen. Das Wetter und das Essen sprachen zwar eindeutig für Malaysia, doch es gab eine Reihe anderer Gründe, die uns unsere Zelte in Asien abbrechen ließen. Dazu kam, dass ich natürlich auch die Nerven meiner Bandkollegen, die ja auch meine Freunde sind, nicht weiter strapazieren wollte. Ich bin mir bis heute bewusst, dass ich die wohl spannendste Zeit meines Lebens auch meiner Band zu verdanken habe, die mich einfach gewähren ließ. Und in diesem Sinne war meine Zeit in Asien auch meine schönste Zeit mit In Extremo. Vielen Dank dafür!