Ius Primae Noctis Teil 3 - Sommer 2008

22 Sep 2008   Kay Lutter

Dann kommen wir mal zum 3. Teil der Ius Primae Noctis-Tourstory, doch wie ihr sicherlich schon mitbekommen habt, habe ich mir die Einteilung der Tour in drei Blöcke quasi bloß aus den Fingern gesogen. Wir waren ja stets und ständig an den Wochenenden unterwegs - nur wollte ich mir nicht antun, im September einen kompletten zwanzigseitigen Artikel abliefern zu müssen, der sich ausschließlich auf meine Erinnerung stützen und damit dann wohl auf nichtverbürgten Tatsachen basieren müsste. Es gibt ja so einige Dinge die im hohen Alter etwas schwieriger werden, das fällt mir spätestens beim Anklicken der Seiten von Myspace auf, eine Erfindung die ja eher für Menschen in der Pubertät gedacht ist und nicht für ältere Herren die Tourberichte ins Netz stellen wollen, oder? Aber solange es noch keine ernsthaften Beschwerden von anderer Stelle gibt, werde ich vorerst wohl noch weiter machen (müssen). Erschießen kann man sich später ja immer noch. "Kurt Cobain hat es gewusst - im Alter droht Gesichtsverlust!" - ist meine Lieblingszeile von den Ärzten (zugegebenermaßen ist es auch die einzige). Aber die stehen ja auch noch munter auf der Bühne und das gar nicht mal so schlecht.

Zurück zum Thema. Was wollte ich denn eigentlich schreiben? Moment... ein Schlückchen Klosterfrau Melissengeist zur Entspannung (Alter! Da ist ja Alkohol drin!)... jetzt weiß ich es wieder... ich wollte galant die Kurve zum Open Air in Zofingen hinbekommen, auf dem wir Anfang August, ganz genau am 6.8., zu Gast waren. Die Kurve deshalb, weil wir bei diesem Festival wieder irgendwie das Gefühl hatten zu den Jüngsten zu gehören, denn mit dabei waren unter anderem Gotthard (na gut, das kann man alterstechnisch noch fast als Newcomer durchgehen lassen) und Uriah Heep. Uriah Heep, das muss man sich mal vorstellen! Als ich eingeschult wurde -und ihr könnt mir glauben dass das schon ziemlich lange her ist - haben Uriah Heep mit "The Magician's Birthday" bereits ihre fünfte Schallplatte veröffentlicht. Ihre fünfte, ich betone! Auf der gab es im Übrigen sagenhaften Basslinien zu hören, wie auch auf den folgenden Livealben, aber das war noch zu Zeiten, in denen das Musikmachen eher von der sportlichen Seite angegangen wurde: Je mehr, desto besser! Mir hatte dieser Sport allerdings gefallen, obwohl ich mich mit den Läufen in den darauffolgenden Jahren auf der Musikschule herumquälen musste, bis die Läufe olypiareif von den Fingern flutschten. Nur hören wollte sie später niemand mehr, doch der sportliche Aspekt scheint ja etwas genutzt zu haben, zumindest was meine Berufswahl anging. Insofern habe ich mein Musikerdasein natürlich in gewisser Weise auch ihrem ehemaligen Bassisten Gary Thain zu verdanken, der wohl auch mit ein Grund dafür war, dass ich mir damals so viel Mühe gegeben habe (inklusive dem lange- Haare-wachsen-lassen natürlich). Schlussendlich haben meine Fingerfertigkeiten sogar für In Extremo gereicht, was mich wiederum davor bewahrt hat, den ganzen Sommer über in den Kurmuscheln auf der Insel Usedom mit einer Tanzmusikkapelle den "Anton aus Tirol" geben zu müssen. Leider ist der gute Gary nun auch schon mehr als 30 Jahre tot, so dass ich mich nicht einmal mehr persönlich bei ihm bedanken konnte.

Jetzt bin ich schon wieder vom Thema abgekommen, die Wirkung von Klosterfrau lässt auch allmählich nach, also versuche ich noch einmal den Quereinstieg über das zauberhafte Catering. Oh Schweiz, du bist ein wahrer Backstagehimmel! Und da untertreibe ich sogar noch, denn was hier auf den Festivals für die Bands rein küchenmäßig getan wird, muss englischen Bands (wegen ihrer beschissenen Küche im Allgemeinen) und besonders amerikanischen Bands (die bekommen zu Hause Essbares erst ab der Madonna-Liga und müssen sich daher in Europa durchfressen) Tränen der Rührung in die Augen treiben. In der Schweiz gibt es keinen Unterschied zwischen Supportbands und vermeintlichen Megaacts, alle bekommen dasselbe und davon so viel bis sie platzen. In diesem Zusammenhang denke ich ungern an ein Konzert in London im Jahr 2000 zurück, bei dem wir uns zu siebent eine Tüte Pommes teilen mussten, neben den fünf Büchsen Bier, die uns der Veranstalter noch gönnerhaft mitgegeben hatte. Er hatte sie wohl einfach aus dem Backstage von GWAR gestohlen, für die wir damals den Eröffnungskaspar gemacht haben. Einmal und nie wieder! Und sooooo lange ist das alles nun auch noch nicht her, wenn ich jetzt mal in Uriah Heep-Relationen denke. Die fragten uns übrigens beim Anblick von ein paar offenen Flaschen Sekt, ob wir etwa vor dem Konzert schon Alkohol trinken würden? Diese Frage hat mich dann doch etwas irritiert, denn schließlich ist mein Bassistenvorbild (und ich erinnere: Ihr eigenes Bandmitglied!) auch nicht gerade an einer Lebensmittelallergie gestorben, sondern an der zu dieser Zeit üblichen "Live fast - die young" - Menüplatte. Also antwortete ich den Herren Altrockern wahrheitsgemäß: "Because it makes no sense to drink after the show, isn't it?" Mit dieser Ansage konnten sie plötzlich etwas anfangen, ein kleiner Blick in die eigene Vergangenheit tut eben manchmal gut. Und es muss doch einen Grund haben, warum die so viel Alkohol in den Klosterfrau Melissengeist kippen. "79% Alkohol und Muttern war Weihnachten voll!" las ich gerade beim surfen. Es kann ja nicht jedes Laster schlecht sein. Nein, wir haben es nicht übertrieben, ich schwöre. Pionierehrenwort!

An dieser Stelle würde jetzt eigentlich ein großer Break kommen, denn wir haben uns einen kurzen Urlaub gegönnt, um danach eine Reise ins Ungewisse anzutreten. Es ging nach Herrmannstadt/Sibiu, idyllisch am Fuße der Karpaten in Rumänien gelegen. Dort hatten Bekannte von uns, genauer gesagt der deutsche Konsul und seine Frau, mitten auf dem Marktplatz in der Innenstadt ein Open Air- Konzert organisiert, auf dem wir, neben einer belgischen Band, spielen sollten. Angereist sind wir natürlich einen Tag zuvor, denn Rumänien wollte sich von uns niemand entgehen lassen. Ich bin vor der Wende nur ein paar Mal mit dem Zug durch dieses Land gefahren und war eigentlich immer ganz froh, wenn ich nach 15 Stunden Fahrt dann jeweils die bulgarische oder ungarische Grenze wieder erreicht hatte. Aber das war lange her und hatte mit der Wirklichkeit heute hoffentlich nichts mehr zu tun. Konsul Olaf empfing uns mit seiner Frau bereits am Flughafen und wir wurden erst einmal quer durch Sibiu ans andere Ende der Stadt in ein schönes neues Hotel kutschiert. Das Hotel war schon sehr imposant, auch Prince Charles soll dort wohl schon genächtigt haben (ich nehme aber stark an dass er nicht mein Zimmer hatte, denn dort stand in der Minibar nur ein warmes Becks und eine ebenso warme Flasche Wasser). Ich hatte aber von meinem Balkon einen schönen Blick auf eine Citroen-Ausstellung, dessen große Werbeaufsteller im Halbstundentakt geräuschvoll umfielen und auf eine Straßenbahnhaltestelle, an der es einen kleinen Kiosk gab.

Dem Hotelpagen am Einlass war extrem langweilig, doch er genoss das Schauspiel mit den Aufstellern mehrere Stunden lang und auch ich verfiel allmählich dem Charme dieser Darbietung: Windböe! - Aufsteller fällt um! - Heimliches Beobachten ob andere Arbeitswillige in der Nähe sind! - Feststellen das niemand da ist! - Erst mal Zigarette anmachen! - Immer noch keiner da! - Was nun? - Angst nun selbst Hand anlegen zu müssen! - Erst einmal nachdenken (hier wäre jetzt eigentlich mein Zwischenruf gekommen: "Festmachen!", aber auf Grund mangelnder Sprachkenntnis des Rumänischen schritt ich nicht ein) - Genüsslich zurückschreiten! - Aufsteller aufstellen! - Anschließendes Warten bis das Ding wieder umfällt! Ich beschloss das Ganze vom Kiosk aus zu beobachten, dort saßen obendrein ein paar Einheimische, es gab Kaffee und Bier und vielleicht käme ja irgendwann auch das richtige Rumänien in Form der alten Vorortbahn vorbei gefahren, deren Gleise ich gerade überstieg. Ich ahnte schon dass Michael irgendwann nach dem Duschen dieselbe Idee haben würde, denn bei Reisen ins Ausland sind wir uns ziemlich ähnlich: Wir halten immer möglichst etwas Abstand zum offiziellen Kulturprogramm und erkunden möglichst auf eigene Faust die Gegend. Wir beließen es dann vorerst beim Kauf rumänischen Bieres, denn die Straßenbahn hatte heute keine Lust, wir waren weit weg vom Schuss und drinnen warteten bereits die ersten Journalisten auf ein Interview.

Nach einer Party am Abend im Haus des Konsuls nahmen wir noch ein Taxi in die Stadt und versuchten irgendeine verruchte Spelunke zu entern. Wir hatten beschlossen den Abend mit ein paar landestypischen, scharfen Getränken zu beenden und den Rest auf morgen zu vertagen. Schließlich landeten wir im Museumskeller Erfurt, jedenfalls fühlten wir uns dort so, denn die Getränke waren ähnlich und die Währung auch. In der City waren bereits alle Bürgersteige hochgeklappt und die Alternativen waren rar gesät, aber wir konnten nebenbei schon einmal unsere Bühne begutachten, auf der wir morgen dann stehen würden. Es war alles mehr als unwirklich.

Am nächsten Morgen zappte ich aus irgendeinem Grund quer durch das ganze Fernsehprogramm. Ich wartete auf die Abfahrt ins berühmte Land Irgendwohin, denn das Frühstück hatte ich wie so oft verschlafen. Da plötzlich erschien er wie eine Fata Morgana vor mir, der Leibhaftige! Ich entdeckte doch tatsächlich "Bürger Lars Dietrich", der mit aufgesetzter Gute-Laune-Grimasse hier im deutschen Frühstücksfernsehen "Der Onkel Doktor hat gesagt ich darf nicht küssen!" sang, während ich in Rumänien im Bett lag. Dieser lustige Vogel stammt zugegebenermaßen aus meiner Heimatstadt, wofür ich natürlich nichts kann. Ich kann nur versuchen mich zu entschuldigen! Ich schwöre: Nicht alle Potsdamer sind so, glaubt mir! (Wer jetzt unbedingt zwischen den Zeilen lesen will liest richtig!)

Nachdem nun das Schlimmste überstanden war, konnte der Tag ja eigentlich nur noch besser werden. Nach einem typischen rumänischen Essen (relativ fettiges Fleisch, dessen Nachwehen aber durch die hochprozentigen Schnäpse wirkungsvoll und konsequent in Schach gehalten wurden) fuhren wir nach Sibiu auf den Marktplatz und fingen an unser Equipment aufzubauen. Sibiu hatte sich herausgeputzt und zumindest das Zentrum der Stadt hätte man so wohl eher in Süddeutschland vermutet. Nicht weit von der Bühne befand sich auch die berühmte Lügenbrücke, auf der wir anschließend Einzeltests vollführten. Wenn jemand lügt, so stürzt die Brücke ein, hieß es, aber wir hatten ja eine deutsche Haftpflichtversicherung in der Tasche, die sich im Notfall für den Wiederaufbau der Brücke zuständig fühlen müsste. Überraschenderweise passierte den Einzelnen nichts, sodass wir anschließend noch einmal mit der ganzen Band geschlossen über die Brücke hüpften, um mit einem Härtetest auch den letzten Zweiflern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Fazit: In Extremo kommen in den Himmel! War ja aber eigentlich auch klar, denn irgendwer muss den kleinen Jungs mit Flügeln da oben ja mal die Harfen nachstimmen.

Wenig später fanden wir uns vor 1500 Leuten auf der Bühne des Marktplatzes wieder und ließen die Boxen beben. Eine ganze Horde Schwarzgekleideter, die uns Stunden zuvor nur schüchtern aus der Ferne beobachtet hatten, fassten sich ein Herz und feierten ausgelassen in der ersten Reihe. Wie sich herausstellte, hatten sie extra die weite Reise aus Bukarest angetreten, nur um In Extremo zu sehen. Das gehört mit Sicherheit zu den vielen kleinen Geschichten, die einen wirklich berühren. Die Sonne ging während des Konzertes langsam unter und hüllte den Marktplatz in eine unglaubliche Atmosphäre, die auch uns ansteckte. Wir werden im nächsten Jahr wohl wieder nach Rumänien fahren, dann vielleicht auch noch einmal direkt nach Bukarest.
Am nächsten Tag ging es über München zurück nach Berlin, von wo aus wir zwei Stunden später mit dem Nightliner zu zwei weiteren Heimspielen nach Merseburg und Klaffenbach durchstarteten. Beide Orte beginnen sich ja langsam zu echten In Extremo-Hochburgen zu mausern, wir jedenfalls fühlen uns dort sauwohl und die In Extremo-Fans anscheinend ebenso. Beide Konzerte waren Wochen zuvor schon ausverkauft. Vielen Dank dafür! Support war die Band End Of Green waren, die völlig überrascht waren, wie gut sie von unserem Publikum aufgenommen wurden.

Dass das Musikmachen eine sehr gefährliche Angelegenheit sein kann, stellte Flex heute in Klaffenbach wieder einmal mehr unter Beweis. Unsere große 28 Zoll-Pauke wollte sich heute Abend nicht von ihm verprügeln lassen und sendete einen eindrucksvoll auf das Trommelfell geworfenen Paukenschlägel prompt wieder zurück an den erschrockenen Absender. Leider mit der Holzseite zuerst, die ihn direkt auf die Augenbraue traf. Noch während des Songs kam Flex mit einem Verband wieder zurück auf die Bühne.
"Und? Hat Valuev etwa schon angefangen zu boxen?"
Cut in Runde 22. Kein schlechter Schnitt, aber leider Technisches K.O., mein lieber Freund und Dudelsackspieler!
Eine Woche später endete die offizielle "Das Recht der ersten Nacht"-Tour mit zwei weiteren Konzerten in Schwerin und Magdeburg und zumindest Schwerins Freilichtbühne wartete sehnsüchtig auf die standesgemäße und vor allem lautstarke Entjungferung durch In Extremo. Schon beim Soundcheck kam Freude auf, zumindest bei Sebastian, der plötzlich einer Frau mit hochrotem Kopf an der Bühnenkante gegenüberstand, die vor Wut sichtlich mit ihrer Atemnot kämpfte.
"Komm'se mal her, junger Mann! Auf der Stelle! Wer ist denn hier für die Lautstärke zuständig!"

Sebastian fummelte unschuldig an seinem Effektbord herum und schoss eine gepflegte 120-Dezibel-Salve in Richtung der Beschwerdeführerin, während Tonmann Vadda sich den Spaß erlaubte und via Talkback die Dame an den Herrn Gitarristen verwies, der hier angeblich der Chef der Phonzahlen sei.
"Das ist ja unglaublich was sie sich hier leisten! In der Parkstraße oben beben die Fensterscheiben! Kommen sie sofort her, oder ich hole die Polizei!"

Basi tat gehörlos und Vadda stachelte derweil die Dame weiter an, während sein Kopf hinter dem Mischpult erstaunlicherweise nicht mehr zu sehen war. Nur seine Durchsagen, gefolgt von einem Kichern, klangen aus den Monitorboxen.

"Sie müssen sich vorn an den jungen Mann wenden. Der Herr Gitarrist ist der Verantwortliche für die Lautstärke! Er ist hier für die Sicherheit der Veranstaltung zuständig"
Während Reiner und ich uns auf der Bühne vor Lachen nicht mehr einkriegen konnten, spielte Sebastian seine Rolle souverän zu Ende, indem er mit einem grandiosen Feedback antwortete, was scheinbar bis in die City zu hören war, denn von den Zaungästen, die draußen bereits auf den Einlass warteten, erklang lautstarker Beifall. Überhaupt erinnerte die Stimmung am Einlass eher an die vergangene Bundesligasaison im Ostseestadion, denn an eine Freilichtbühne mitten im Park einer Landeshauptstadt. Trotz Nieselregen wussten die Fast-Hanseaten richtig zu feiern und zeigten den Bewohnern in der Parkstraße was eine Harke ist!
Der Sommer war nun wohl endgültig vorbei, denn es nieselte immer noch, während wir in der Feste Mark in Magdeburg aufbauten und den Soundcheck machten. Es war langweilig und wir versuchten die Zeit totzuschlagen. Unsere Merchandiser hingegen hatten ihren Spaß, denn Hobbytätowierer Adi hatte endlich drei Freiwillige aufgerissen die beschlossen hatten, sich die berühmten Zunftzeichen aller Merchandiser auf den Unterarm stechen zu lassen: Den berühmten Bügel! Wie bereits gesagt: Adi sucht Freiwillige und bis jetzt ist alles noch umsonst. Nur das mobile Tattostudio fiel heute etwas aus dem Rahmen, denn es wurde kurzerhand in die Behindertentoilette verlegt.

Bitte verzeiht dass ihr von mir keine Konzertberichte bekommt. Das ist irgendwie nicht meine Aufgabe, denn ich (bzw. wir) stehen auf der anderen Seite und es wäre vermessen das zu beurteilen. Ich hatte während meiner Schulzeit diverse Beurteilungen und vor allem Entschuldigungen für mich selbst verfasst und schon damals waren die Ergebnisse zweifelhaft.
Russland! Es gibt wenige Sachen im Leben die ständig drohen im Chaos zu versinken und die man doch immer wieder gern wiederholt. So unsere Konzerte in Mexiko und vor allem in Russland. Es gibt für uns gewisse Parallelen zwischen den beiden Ländern, aber hatten wir zum Beispiel früher gedacht die Stimmung in Mexiko und in Südamerika wäre nicht mehr zu toppen, so mussten wir uns schon bei unserem ersten Auftritt in Moskau 2006 eines Besseren belehren lassen. Aber das haben wir gern, das könnt ihr uns glauben! Russland ist, zumindest was unsere Konzerte im Ausland angeht, mittlerweile fast so etwas wie eine zweite Heimat geworden. Und es sind im Nachhinein immer die Konzerte über die man am längsten spricht, aus den verschiedensten Gründen. Vielleicht liegt es einfach daran, dass die Russen ein gutes Feeling für In Extremo haben und man diese Energie auf der Bühne in irgendeiner Form zurück geben kann. Dabei bin ich weiß Gott kein Freund von Esoterik und auch nicht im geringsten offen für so etwas. Vielleicht liegt es ja auch einfach nur daran, dass die Russen auf die Freundschaft mit einem großen Wodka anstoßen. Und durchsichtige Getränke schaden nicht, das hat mir mein Freund Egon schon bei meinem ersten Russlandtrip erklärt.

Unsere kurze Reise nach Russland begann so chaotisch wie die letzte geendet hatte, doch dieses Mal ließen wir Air Berlin Schicksal spielen. Das haben sie auch ganz gut hinbekommen, alle Achtung. Es sollte zuerst nach St. Petersburg gehen und am nächsten Tag gegen Mittag dann weiter nach Moskau. Es ging aber noch nicht mal von Berlin los, zumindest nicht zum angekündigten Zeitpunkt, sondern erst knappe 5 Stunden später. Der Sprechfunk im Flugzeug war kaputt, das war alles. Doch die zwei Stunden Zeitunterschied dazugerechnet, befanden wir uns um 19:00 Uhr, eine Stunde vor Einlassbeginn im SPB Port, schon an der langen Schlange der russischen Immigration wieder.
Ich glaube dass ich in meinem Leben schon viel in der Welt herumgekommen bin und auch in Ländern war, in denen es schon etwas komplizierter ist einzureisen, wie zum Beispiel nach Burma bzw. Myanmar. Da brauchen die Behörden Zeit um 20-seitige Einreiseformulare und Hotelbestätigungen abzustempeln, können Namen nicht lesen und auch Englisch ist eher Luxus. In St. Petersburg hingegen wurden eigentlich nur die Pässe kontrolliert, doch es hatte den Anschein, als würden die Damen (von denen immer nur eine etwas tat) die Daten per Hand in den Computer tippen. Und so war es auch als ich 90 Minuten später dann endlich an der Reihe war. Die vollbusige Beamtin blickte mir tief in die Augen (Na? Warst du auch artig?), blätterte langsam alle bisherigen Visa durch und tippte mit den längsten Fingernägeln der Welt im Einfingersystem genüsslich irgendwelche Zahlenkolonnen in ihre Tastatur. Doswidanja!

Um 22:00 Uhr erreichten wir, nach einer Jagd durch die Petersburger City, schließlich den Laden, um 22:30 Uhr standen wir auf der Bühne, denn Punkt 0:00 Uhr begann hier die Sperrstunde! Unsere Moskauer Veranstalter blieben relativ gelassen, zumindest sah man bis zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Anzeichen von Hektik bei ihnen. Hier ticken die Uhren eben anders, solange noch 90 Minuten für ein Konzert übrig waren, war alles entspannt. Punkt 22:30, nach einem notwendigen Wodka-Minimaldoping, startete das Intro und wir befanden uns in der Höhle des Löwen.

Wenn man sich wenigstens eine Stunde lang mental auf ein Konzert vorbereiten kann wird alles gut, bei 0 auf 100 in ein paar Sekunden wird es kritisch. Aber die Russen, die zuvor schon teilweise drei Stunden eine leere Bühne angestarrt hatten, empfingen uns mit einem ohrenbetäubenden Krawall. Hier war niemand nachtragend oder wollte gar eine Erklärung für unsere Verspätung. Die Russen wollten dass die Band Vollgas gab - und das taten wir dann auch ohne Rücksicht auf Verluste. Nach dem Intro und der ersten Strophe von "Omnia Sol Temperat", dieses Mal ohne Pyrotechnik, fiel plötzlich der ganze Stress von mir ab und ließ alles vergessen was vorher war.
Wir hätten gern St. Petersburg noch einen Besuch abgestattet, so sah ich das Winterpalais dann wenigstens doch noch aus dem Fenster der russischen Airline. Es sah aus wie in meinem Russischbuch! Reiner und ich wollten eigentlich noch all die aus dem Russischunterricht bekannten Dinge abklappern, von denen ja jeweils die Hälfte in Moskau und die andere Hälfte in St. Petersburg steht. "Leningrad", lang ist es her. Reiner blühte hier in Russland, was sein Interesse für Fremdsprachen anbelangte, mit einem Mal völlig auf. Ich war völlig überrascht, dass er hier noch einen Großteil seines Schulrussisch abrufen konnte, was ich irgendwo anders abgelegt habe. Es ist einfach nicht mehr zu finden...

"Scheibu! Scheibu! Scheibu!" - so wurden wir in Moskau standesgemäß empfangen. Es ist eigentlich der Ruf der Eishockeyfans nach der Scheibe und danach, dass es endlich los geht. Heute gab es keine Verspätung und wir konnten pünktlich beginnen. Und dieses Mal hatten wir auch eine russische Pyrotechnikfirma mit am Start, die, auf Geheiß unseres Pyromanen Stickstoff, den Leuten ordentlich Feuer unter dem Hintern machte. Das MSK Shadow war für uns der mittlerweile dritte Moskauer Laden, in dem wir zu Gast waren und es stapelten sich irgendwas um die 1500Fans im Saal und auf den Rängen. So genau kann das in Russland niemand sagen. Und russische Fans mögen keine Supportbands, sie brauchen kein Vorspiel, also singt man "Scheibu! Scheibu!" und erwartet einen Schlag voll auf die Zwölf. Das war natürlich ganz nach dem Geschmack von In Extremo.
Am Abend feierten wir noch mit einer anderen Berliner Band im Hotel, die wir zufällig trafen. Marco brillierte währenddessen am weißen Flügel und sorgte für mystische Stimmung und äußerst gewöhnungsbedürftige Harmoniefolgen, zumindest für den Mitteleuropäer. Doch nach einer längeren Phase an Mollakkorden (einer wirklich längeren Phase an Mollakkorden), sah sich die Security genötigt, ihn mithilfe von Wodka vom Flügel wegzubewegen. Auch so kann Security sein, wer hätte das gedacht?

Dann wurde es wieder chaotisch, denn Micha weckte mich früh um halb 10 Uhr, weil er im Taxi saß und nicht wusste, von welchem der drei Moskauer Flughäfen sein Lift nach Köln gehen würde. Gott sei Dank hatte sein Flieger 2 Stunden Verspätung. Und während Micha auf seinen Flieger wartete, zahlte mir der Veranstalter in der Hotelhalle die Gage in bar aus. Dabei blickte er mich an und sagte im lustigen Englisch: "Kay, it's very dangerous here in Moskow to carry so much Euros with you! Bu you are diffeent! You are In Extremo!"

Ja, danke, ich liebe dich auch! Und ich liebe Moskau! Und außerdem hab ich Dr. Pymonte der mich immer beschützen würde! Stimmt‘s, Py?