"Kuss misch" -die Russland- Tourgeschichte

18 Nov 2011   Kay Lutter

Ich kann es mir nicht wirklich erklären, was die Russen an In Extremo für einen Narren gefressen haben. Und auch umgekehrt erschließt es sich mir nicht wirklich. Keine Ahnung, liegt es vielleicht daran, dass wir als ehemalige Ostdeutsche durch jahrelangen Russischunterricht eine besondere Beziehung zu dieser uns eigentlich eher fremden Kultur haben? Dass wir als Musiker Wodka und schöne Mädchen zu schätzen wissen? Ich habe keine Ahnung und zudem ist mein Schulrussisch schon vor vielen Jahren auf ein Niveau geschrumpft, das kaum mehr messbar ist. Ich kann nur sagen, dass wir uns immer wie kleine Schulkinder freuen, wenn die Reise in Richtung Osten geht. Irgendwie wird uns der Osten wohl unser ganzes Leben lang verfolgen. So auch dieses Mal.
Doch zuallererst sollte es nicht nach Russland, sondern nach Kiew, in die Hauptstadt der Ukraine gehen, ein neuer Länderpunkt in der In Extremo-Vita. Ich war vor vielen Jahren schon einmal mit einer Band in der Ukraine zu Gast. Damals gehörte dieses Land noch zu Russland, Ostdeutsche Bauarbeiter waren mit der Errichtung einer Erdgastrasse beschäftigt, die interessanterweise in Westdeutschland endete und wir sollten dort für die musikalische Untermalung der Arbeiter sorgen.
Inzwischen ist eine Menge Wasser den Dnepr hinunter geflossen, die Ukraine selbständig, die DDR nicht mehr existent und das Wort "Russland" scheinbar nicht mehr allzu beliebt in dieser Gegend. Aber wir wären nicht In Extremo, wenn wir nicht auf völlig unkonventionelle Weise unseren Beitrag zur Völkerverständigung leisten würden, indem wir diese Unterschiede einfach ignorieren. Wie gesagt: Den Osten werden wir wohl nicht mehr los. Ähnlich scheint es unserem russischen Fanklub zu gehen, deren Mitglieder auch aus beiden Ländern kommen und denen Grenzen völlig egal sind. So soll es sein!
Doch zuerst einmal mussten wir Kiew erreichen und unser zahlreiches Übergepäck möglichst preisgünstig einer der wenigen Fluglinien überhelfen, welche diese Route überhaupt im Angebot hat. In Berlin gibt es bisher ja nur so etwas wie einen kleinen Dorfflughafen, der wohl nicht damit rechnet, dass täglich etwas mehr als 20 Leute auf die Idee kommen könnten, in die Ukraine fliegen zu wollen. Ich hoffe, dass liegt nur an unserem Dorfflughafen und nicht an der Ukraine selbst, die ja immerhin halb so viele Einwohner wie Deutschland hat.

Mit unseren 20 Kisten Sperrgut im Anschlag entdeckten wir schon vom Terminal aus die kleine Propellermaschine von Baltic Air, welche uns über Tallin nach Kiew bringen sollte. Das würde wohl wieder stundenlange Diskussionen und Geldverhandlungen nach sich ziehen, aber zum Glück landeten wir wohl am Lehrlingsschalter. Sekunden später waren die beiden Damen am Check In unserem Charme verfallen und wir diskutierten bereits über die Sitzreihen, die wir möglichst komplett in Beschlag nehmen wollten. Ich erinnere mich da mit Schaudern an vergangene Flüge mit Lufthansa oder Air France, bei denen genussvoll sogar das letzte Milligramm Übergepäck addiert und uns anschließend mit einem Grinsen eine unglaubliche Rechnung präsentiert wurde. Der Osteuropäer ist da wohl wirklich etwas entspannter und unkomplizierter. Diese Tour stand wohl einfach unter einem guten Stern.

Kiew – was für eine Stadt! Da wir nicht, wie leider viel zu oft, erst am Konzerttag selbst geflogen sind, hatten wir am folgenden Tag wenigstens noch bis zum frühen Nachmittag Zeit, die Stadt zumindest in Ansätzen zu erkunden. Wie oft waren wir während unserer Tourneen stundenlang auf Landstraßen unterwegs, nur um anschließend in einem Nightliner in einem Klub inmitten eines Industriegebietes aufzuwachen: Duschen, Soundcheck, Konzert, Abreise… das war Zürich. Barcelona. Santiago. „Ah! Du kommst mit deinem Beruf aber wirklich weit herum“, habe ich meine Nachbarn noch im Ohr, wenn ich in Berlin erzähle, in welchen Städten wir mit unserer Band schon gespielt haben. Wenn die wüssten, dass wir manchmal nicht das Geringste sehen, würde sich die Bewunderung doch arg in Grenzen halten. Doch hier in Kiew sollte es anders sein und so wanderten Boris und ich quer durch die ganze Innenstadt runter bis zum Dnepr. In dieser Stadt wird an allen Ecken und Enden gebaut und schmerzlich wurde mir bewusst, dass ich vor kurzem meine Karte für die Fussball-EM in Kiew wieder abgeben musste, da wir mit der Band zu diesem Zeitpunkt in der Schweiz unterwegs sind. Also einmal Kiew im Schnelldurchlauf, aber das ist immerhin besser als gar nichts! Schon jetzt stand für mich fest, dass ich mir diese Stadt noch einmal genauer ansehen müsste, ob mit oder ohne Band.

Am Nachmittag ging es zum Soundcheck in den Klub. Der Laden hieß „Bingo“ und sah besser aus als sein Name vermuten ließ. Auch die gemieteten Verstärker ließen keine Wünsche offen, so dass wir wohlgelaunt ans Werk gehen konnten. Es ist ja immer ein wenig wie Lottospielen, wenn man vor Ort Verstärker und Boxen anmieten muss, weil sich ja nicht nur die Lufthansa weigern würde, unsere Boxen in einem Linienflug zu transportieren. Das ganze Equipment per Truck bis Kiew zu transportieren, ist leider zu aufwendig, aber wir hoffen inständig, dass es uns trotzdem einmal gelingt, um hier auch einmal unsere komplette Show zeigen zu können.
Auch unser russisch - ukrainischer Fanklub, dieses Mal sogar mit einer kleinen Abordnung aus Deutschland, die während des Konzertes tapfer die Fahne schwang, war schon da und fotografierte sogar beim Soundcheck, was das Zeug hielt. Wenig später standen wir dann auch schon auf der Bühne und gaben unser Debüt in der Ukraine und es fühlte sich an, als wären wir schon viele Male hier auf Tour gewesen. Im Grunde genommen war die Stimmung wie in Thüringen, was ich so mal als Kompliment weitergeben möchte. Die Fans verlangten lautstark nach „Kuss misch“ und wir ließen uns nicht lange bitten, die Zugabe auch noch einmal zu verlängern. Selbst der „Spielmannsfluch“ wurde uns noch abverlangt, ein Song, bei dem ich jedes Mal umsonst hoffe, dass er irgendwie vergessen wird. Es war unglaublich, wie textsicher die Fans in den ersten Reihen waren, selbst bei dieser Nummer, die ja insgesamt 3 lange, komplizierte Strophen hat.
Um kurz vor Mitternacht fuhren wir zum Bahnhof, denn es sollte mit dem Zug weiter nach Moskau gehen. Wer gern mit der Bahn unterwegs ist, wird die russische Eisenbahn lieben. Wir fanden nach diesem Konzert noch lange keinen Schlaf, was vielleicht auch am guten Wodka lag. An Einschlafen war ohnehin nicht zu denken, denn die Temperatur in den Waggons war typisch russisch auf "Sauna" eingestellt, zudem beehrten uns wenig später bereits die ukrainischen Grenzbeamten. Dann versuchten wir, nach weiteren Schlafbieren, die Decke über den Kopf zu ziehen, doch an der nächsten Station wurden wir bereits von der russischen Seite geweckt, die ebenfalls Interesse an einer ausgiebigen Passkontrolle hatten.
Gegen Mittag kamen endlich die Vorstädte von Moskau in Sicht und wir orderten den letzten Tee, den wir mit den letzten ukrainischen Scheinen bezahlten. Draußen war es knapp unter Null Grad, hier drinnen hätte man Palmen aufziehen können. Es ist wie überall in Russland, wenn es kalt ist: Betritt man irgendeinen Raum, kann man sicher sein, dort tropische Temperaturen vorzufinden. Wenig später, in meinem Moskauer Hotelzimmer, war die Klimaanlage auf schlappe 26 Grad voreingestellt. Doch erst einmal landeten wir in Moskau auf dem Kiewer Bahnhof und wurden schon von ein paar russischen Fans begrüßt, die wohl zufällig den richtigen Zug erraten hatten. Dann wurde das Gepäck in einen Transporter umgeladen und wir fuhren in Richtung „Arena Moscow“. Eigentlich war alles wie immer und es blieb keine Zeit, sich irgendetwas anzusehen. Doch Gott sei Dank waren wir nun bereits das vierte Mal in Moskau zu Gast, übrigens im vierten Klub!
Die Arena war natürlich wesentlich größer als der Bingoklub, aber es hatten sich mit 1400 Tickets auch schon doppelt so viele Fans ihre Karten im Vorverkauf besorgt. Der Saal sah gut aus, die Band war bester Laune und eigentlich konnte es los gehen. Kurz vor dem Konzert hatten wir noch ein Treffen mit dem Fanklub. Es ist schon unglaublich zu hören, von woher die Leute alles anreisen, nur um die Band zu erleben. Es waren sogar ein paar Fans dabei, deren Anreise wesentlich weiter (und ich nehme mal an auch wesentlich beschwerlicher) war als unsere. Dann wurden Geschenke ausgetauscht, viele, viele Fotos gemacht, der Wodka getestet und schon standen wir wieder auf der Bühne.
Micha versuchte auf der Bühne sein Restrussisch zu aktivieren, was ihm wohl auch gelang, zumindest wurde jeder Versuch einer Ansage in Russisch geradezu frenetisch bejubelt. Wir spielten dasselbe Set wie in Kiew und brachten es auch heute wieder auf vier Zugaben, Spielmannsfluch inklusive. Leider war uns während der ganzen Tour die Pyrotechnik verboten worden, was wir natürlich in Anbetracht der Unfälle, die sich in der Vergangenheit hier in Russland ereignet hatten, schon verstehen konnten. Schade ist es trotzdem, denn wir hätten natürlich schon gern einmal die komplette In Extremo-Show gezeigt, aber vielleicht schaffen wir das ja eines Tages noch einmal.
Nach dem Konzert haben wir uns unter die russischen Fans gemischt, was immer wieder nett, aber auch recht abenteuerlich ist. Jeder möchte natürlich mit jedem ein Foto machen und parallel seine komplette Lebensgeschichte zum Besten geben, auch Angebote für diverse Stadt-, Kneipen- und Barführungen – spätere Heirat nicht ausgeschlossen - prasselten im Sekundentakt auf uns nieder. Leider mussten wir nach einer halben Stunde schon wieder den Weg in Richtung Bahnhof antreten, um den Zug nach St. Petersburg zu erreichen. Alles klappte natürlich problemlos, auch weil wir mit Dennis einen extrem zuverlässigen russischen Tourbegleiter mit an Bord hatten. Dennis kümmerte sich um alles, Pässe, Tickets, Geldumtausch – und nebenbei erklärte er uns die russische und ukrainische Geschichte im Schnelldurchlauf.

Am nächsten Morgen erreichten wir St. Petersburg noch im Dunklen. Hier geht die Sonne – wenn überhaupt - erst zwischen 9 und 10 Uhr auf, was uns reichlich zu Gute kam, denn so steuerten wir zuallererst einmal unser Hotel an, um noch etwas Schlaf nachzuholen. Mit dem Zug zu fahren macht zwar Spaß, aber wie das auf Klassenreisen halt so ist: Man kommt irgendwie nicht wirklich dazu die Augen zuzumachen. Daran wird sich wohl nie etwas ändern.
Wir sollten heute Abend im „Glavklub“ spielen, einem der wenigen Läden, in denen wir zuvor schon einmal gespielt hatten. Wir wussten also in etwa, was uns erwartete. Wir hatten noch ewig Zeit und so bot sich der Fahrer des Bandbusses an, uns ein wenig durch die Stadt zu kutschieren, St. Petersburg im Schnelldurchgang also. Aber da wir bei unserer letzten Tour völlig verpeilt in der falschen Richtung unterwegs waren (nicht jeder Hafen ist schön!), konnten wir uns dieses Mal wenigstens ein Bild machen. Zum Schluss landeten wir - wie sollte es bei alten Ostlern auch anders sein – am Panzerkreuzer „Aurora“. Alles war ganz genau so wie in meinem Russischlehrbuch – und wenn ich auch nicht viel von der Sprache behalten hatte, so hatten sich jedoch wenigstens die Bilder tief in meinem Gedächtnis eingebrannt.
Zum Konzert selbst kamen wesentlich mehr Leute als beim letzten Mal. Scheinbar hatten wir also doch Eindruck hinterlassen und so gaben wir auch heute wieder Vollgas. Auch wenn es albern klingt, aber mit Vollgas auf der Bühne fliegt der Funke natürlich ebenso schnell auf das Publikum über, was vom ersten Ton total begeistert mitging. So langsam begann man sich an das euphorische russische Publikum zu gewöhnen, doch schon neigte sich die Tour wieder ihrem Ende, doch natürlich nicht, ohne dass sich die Band wieder mit vier Zugaben von der Bühne verabschiedete. Nach einem kurzen Gang unter die Dusche folgte danach das mittlerweile übliche Ritual: Tränen, Fotos, Unterschriften, Geschenke, Kuss misch, Lebensgeschichten und Versprechungen – hier in Russland wird das „Bad in der Menge“ noch wörtlich genommen. Wir werden uns noch lange daran erinnern!