Sängerkrieg Teil 2

26 Jan 2009   Kay Lutter

Weihnachten war fast vorüber und so trafen wir uns, jeder Einzelne mit gefühlten zwanzig Kilogramm Übergewicht, am Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertages früh um acht Uhr wieder vor unserem Laden, dem Treffpunkt zur Abfahrt nach Fürth. Während die Crew schon gegen Mitternacht in Richtung Bayern aufgebrochen war, durfte die Band noch etwas länger schlafen. Ich war mir im Nachhinein aber nicht mehr ganz sicher, ob die Abfahrt um Mitternacht nicht vielleicht doch die bessere Variante gewesen wäre, denn am zweiten Weihnachtstag um acht Uhr morgens sieht man, bis auf ein paar Hundebesitzer, die mit verkniffenen Gesichtern ihre Vierbeiner auf dem Gehweg kacken lassen, so gut wie niemanden auf der Straße. Mein Mitleid mit diesen Frühaufstehern war jedenfalls begrenzt. Ein Hund kommt mir nicht ins Haus!
Der dritte Teil unserer Tour sollte heute starten und es ging in die letzte Runde. Es ist schon merkwürdig, denn wenn ich so zurück blicke, dann bin ich schon seit vielen Jahren spätestens am zweiten Weihnachtsfeiertag wieder von zu Hause weg und mit irgendeiner Band unterwegs. Scheinbar wird es den Leuten nach zwei Tagen Ruhe daheim langweilig, die Geschenke sind alle ausgepackt, bis zum Umtausch ist es noch einen Tag hin und das ständige Gänsebraten-Essen macht träge. Und die 32. Wiederholung von "Drei Haselnüsse für Aschenputtel" verspricht auch keinen erfüllten Abend.
Viele Jahre zuvor, als einem die Einberufung zum Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee noch im Nacken saß, dachte ich oft daran, dass der zweite Weihnachtsfeiertag doch eigentlich der perfekte Tag dafür gewesen wäre, die kleine DDR ein für alle mal von der Landkarte zu radieren. Passenderweise zum Fest der Liebe, denn hier wohnten ja ohnehin größtenteils nur Atheisten wie ich. Das "Fest der Liebe", wer hat sich diese Bezeichnung eigentlich ausgedacht? Oder noch besser: Zu Silvester! Gegen Mitternacht! Der gesamte Osten, inklusive seiner Streitkräfte (auch ein schönes Wort!) lag sich Stunden zuvor mit Sicherheit schon komplett alkoholisiert in den Armen und die Russen lagen wegen der Zeitverschiebung ebenfalls schon bewegungsunfähig im Bett. Ich bin mir sicher dass die Übernahme nicht lange gedauert und auch friedfertig über die Bühne gegangen wäre. Stattdessen bekam die kleine DDR 1989/90 die riesigen Gebiete im Westen dazu geschenkt, wie Micha immer zu sagen pflegt, Territorien in denen wir nun seit Jahren Musik machen dürfen - und in die wir heute aufbrechen. Nach Fürth! Aber mir war es echt noch zu früh, ich musste mich dringendst noch einmal hinlegen und wollte bis zur Ankunft am Zielort durchschlafen. Autobahnen hatte ich in den letzten Wochen genug beobachtet.
Die Stadthalle hatte uns endlich wieder. Doch weil dieses Haus total verbaut ist, haben wir eigentlich immer ein etwas ungutes Gefühl dort zu spielen. Direkt vor der Bühne ist genügend Platz, aber dann zieht sich der Saal merkwürdigerweise fast rechtwinklig um die Ecke. Nebenbei erinnert der Stil dieses Gebäudes an den ehemaligen "Palast der Republik", in Berlin, der gerade sein unrühmliches Ende gefunden hat. Nur ein Haufen Schrott erinnert noch an dieses monströse Bauwerk. Nun steht der kleine Bruder von "Erichs Lampenladen" also mitten in Bayern, sorry, mitten in Franken! Und dabei dachte man immer jenseits der Thüringer Landesgrenze wäre alles so konservativ. Anyway: Irgendwie hatte sich bisher wohl noch niemand wirklich über den Zustand in diesem Laden beschwert, Gott sei Dank, denn wo könnte man in Nürnberg und Umgebung eigentlich sonst auftreten?
Ich musste beim Soundcheck, mit Blick in den noch leeren Saal, auch ständig daran denken, wie wir dieses Konzert bei der Weihnachtstour 2003 ausfallen lassen mussten, weil Micha damals mit einer bösen Grippe im Bett lag. Krankheitsmäßig hatten wir in diesem Jahr richtig Schwein gehabt, denn die Infektionsrate hielt sich in Grenzen. Das Konzert in Fürth war im Übrigen damals das einzige Konzert überhaupt, welches wir jemals haben ausfallen lassen! Zum Nachholtermin im Februar des folgenden Jahres musste ich extra aus Malaysia, wo ich damals zu Hause war, einfliegen. Da ich der Zeit 7 Stunden voraus war, dachte ich im Taxi zum Flughafen von Kuala Lumpur daran, dass meine Bandkollegen eigentlich auch nicht wesentlich später zum Konzert losfahren würden als ich. Und beim Rückweg würde ich, trotz einer 10.000 Kilometer-Fluges (wenn alles funktionierte), 15 Stunden später in meinem eigenen Bett liegen und durch mein Fenster die Affen durch die Palmen klettern sehen. Grandios! Ich erinnerte mich plötzlich wehmütig an den höllischen Temperaturunterschied von knapp 40 Grad Celsius und an meine Selbsttests bezüglich des Jetlag. Es war lustig, denn ich habe meine Uhr bei diesen Kurztrips nicht ein einziges Mal umgestellt und die Zeitverschiebung einfach total ignoriert. Ein paar Stunden nach Konzertende saß ich dann schon wieder im Flieger zurück nach Malaysia. Aber das alles war nun auch schon wieder Geschichte.
Leider stellten wir ziemlich schnell fest, dass Michas Cyster noch so im Proberaum stand, wie wir sie dort zwei Tage vor Weihnachten auch abgestellt hatten. Michas "Ai Vis Lo Lop"-Cyster! Aber kann man um 8:00 Uhr früh von Musikern wirklich verlangen dass sie schon all ihre Sinne beieinander haben? Gerade Micha konnte bei dieser Uhrzeit mitfühlen und so hielt sich der Ärger in Grenzen. Unser Freund Alex erbarmte sich schließlich nach Berlin zu fahren, um das Teil zwei Tage später wieder in Erfurt abzuliefern. Danke, Alex!
Zum Soundcheck trafen dann die Herren von Korpiklaani ein, die alle auch noch etwas verschlafen aussahen. Vielleicht lag es an diversen Feierlichkeiten, denn sie waren ja auch schon ein paar Tage länger als wir auf Tour. Ich war gespannt auf ihre Show, denn ich kannte nur eine CD von ihnen und die Anforderungen auf ihrer Cateringliste. Die waren dafür wirklich mehr als beeindruckend! Sagen wir mal so: Es waren auch vier Tetrapack Orangensaft mit drauf, ich vermute mal zum Mixen. Aber für eine finnische Band war das natürlich okay. Und wir sind ja nun auch keine Waisenknaben.
Wenn ich Basti am Folgetag eines Konzerttages, sagen wir mal so am frühen Nachmittag, über den Weg lief, dann war seine erste Frage stets: "Aronal? Oder schon Elmex?", was quasi mit "Wie spät iss'n?" übersetzt werden kann. Da zu diesem Zeitpunkt die Sonne aber schon wieder auf dem Weg nach unten war, wird seine Aronaltube wohl immer noch jungfräulich im Kulturbeutel vor sich hin schlummern.
Am zweiten Tourtag wachten wir in Hannover auf, die Sonne schien überraschenderweise und ich machte mich auf den Weg in den Park, um die Zeit tot zu schlagen. Ich hatte keine Lust darauf im Tourbus Filme zu sehen, ein Buch zu lesen, die Mails abzurufen oder gar an einem Samstag Nachmittag in Hannover unterwegs zu sein um mir leere Geschäfte anzusehen. Ich hatte einfach Lust auf gar nichts. Es ist wirklich ein Phänomen: Zu Tourbeginn nehme ich mir immer einen riesigen Berg Arbeit mit, viele Manuskripte, aus denen irgendwann vielleicht einmal etwas werden wird (sicherlich!), Berge von Büchern, Text- und Musikideen, die weiter verfolgt werden sollten, ein paar DVDs, die ich schon immer mal sehen wollte und die komplette Fotoausrüstung, weil ja sonst niemand Fotos macht. Spätestens am dritten Tourtag jedoch ist das Interesse an all diesen Dingen komplett erlahmt und eine Art Tourfaulheit macht sich breit. Irgendetwas stimmt auch dann mit der Zeitrechnung nicht mehr und man lebt in einem seltsamen Universum. Ja, man kommt selbst nicht einmal mehr dazu Leute anzurufen oder ein paar private E-Mails zu beantworten. Man hat einfach keine Lust dazu! Eine ganze Weile dachte ich, dass nur mir das so ginge, bis mir Micha und Yellow dasselbe bestätigten. So blieben denn auch die Joggingschuhe von Boris im Koffer. Hatte ich erwähnt dass wir jeden zweiten Tag ins Fitnessstudio und in die Sauna gehen wollten? Was hatten wir uns nicht alles vorgenommen...

Der vorletzte Tourtag führte uns nach Erfurt. Als die Sonne durch mein kleines Busbullauge lugte und mich weckte, machte ich mich schleunigst auf den Weg in die Thüringenhalle und begegnete Basti überraschend früh schon im Catering. Man konnte diese Uhrzeit sogar fast noch als Aronal-Zeit durchgehen lassen. Es war Sonntag und Basti lud nach dem dritten Becher Kaffee großspurig zu einem Spaziergang ein. "Mal frische Luft und so, weeste?" Erfurt ist zwar eine ganz nette Stadt, aber heute war Sonntag und wir parkten in klirrender Kälte vor der Thüringenhalle in der Nähe des Steigerwald-Stadions. Es gab nichts wo man hätte hingehen können. Der Wald war zu weit, die Wendeschleife der Straßenbahn nur mäßig interessant und das Stadion des FC Rot-Weiß Erfurt, wie alle Stadien, verrammelt und verriegelt. Basti wollte trotzdem los und so fanden wir uns fünf Minuten später auf dem Gehweg vor der Halle ein. "Wohin denn nun?", fragte ich frierend. Ich zog meine Mütze tief ins Gesicht und merkte ziemlich schnell, dass ich die Handschuhe im Bus vergessen hatte. "Egal, erstmal geradeaus!". Doch keine einhundert Meter weiter bog Basti plötzlich wieder um und trabte zurück in Richtung warmer Thüringen-Halle. "Och, die Kälte hab ick echt unterschätzt!"
Das war es dann mit den außermusikalischen Großtaten für heute und vielmehr tat sich eigentlich auch an den anderen Tagen nicht bei uns. Doch der "Erfurter Stadtbummel" zählt rein statistisch schon zu den kürzesten gemeinsamen Freizeitaktivitäten der Band, welcher nur noch von Basti's Joggingversuch vor zwei Jahren, während eines Studioaufenhaltes in Münster, übertroffen wird. Er konnte ja nicht ahnen, dass ein Großteil der Band am Fenster stand und bereits auf die Länge der Wegstrecke wettete, die er bis zum Wendepunkt zurücklegen würde. Dass es sooooo kurz werden würde hatte mich damals im Übrigen zwanzig Euro gekostet.
Unsere Lieblingsveranstalter Appel & Rompf lassen sich bei unseren Konzerten meistens etwas Außergewöhnliches einfallen - und in den allermeisten Fällen spielt Alkohol dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Mal abgesehen vom tschechischen Fassbier gab es dieses Mal backstage wieder eine Bar, die natürlich erst nach dem Konzert eröffnet wurde. Irgendwann wird es allerdings merkwürdig, denn irgendwann kommt erfahrungsgemäß der Punkt an dem man in seinem eigenen Backstage niemanden mehr kennt - außer unserer Merchandising-Crew natürlich, die man immer dort findet, wo es etwas umsonst gibt. Bei Puck hatte das anscheinend kleine Nachwirkungen, denn auf der kurzen Fahrt nach Leipzig stieg er komplett verwirrt auf einer Raststätte aus und fand den Bus nicht mehr. Tunnelblick. Puck war heilfroh, dass der Fahrer des Crewbusses ihn noch rechtzeitig bei seinem hilflosen Trampversuch erwischte und ins Bett brachte.
Dann ging es nach Leipzig ins "Haus Auensee", zu unserem letzten Konzert im Jahr 2008. Normalerweise ist es ja so, dass am letzten Tourtag sich die Crew ein paar Späße für die Musiker ausdenkt. Da wird mal Salzwasser in den Sekt gekippt, da werden Kostüme parodiert oder andere kleine Spielchen, deren Überraschungseffekte bei unserem langen Bestehen aber mittlerweile gegen Null tendieren. Vielleicht hängt ja auch die Latte schon zu hoch oder die Späße würden bei uns gar nicht mehr auffallen, weil bei uns den ganzen Tag über etwas schief geht. Heute, am letzten Tag, hat es zumindest Basti doch noch erwischt, allerdings war diese Aktion ein grandioses Eigentor. Quasi das Tor des Monats! Er hatte mit Micha vor, Pymonte seines stinkenden T-Shirts zu entledigen. Das klappte soweit auch ganz gut, leider brach sich Basti dabei ziemlich unglücklich den Finger seiner rechten Hand. Irgendwie scheinen wir trotzdem immer Glück im Unglück zu haben, denn das alles passierte drei Songs vor Ultimo, drei Songs vor dem Ende der Tour. Aua!