Ius Primae Noctis Teil 1 - Sommer 2008

09.07.2008   Kay Lutter

Wenn man Anfang April an der Tür unseres Proberaumes lauschte, konnte man es sogar schon von draußen hören: Ein Geräusch das klang wie das ungeduldige Scharren von Pferdehufen, kurz bevor es wieder auf die Galopprennbahn gehen würde. Und richtig, genau so fühlten wir uns nach den nicht enden wollenden 8 Monaten unter Tage, in dunklen Proberäumen wie auch in den dunklen Principal-Studios von Ottmarsbocholt. Dort war es zwar nicht wirklich dunkel, doch wer von uns konnte schon ehrlich von sich behaupten, dort jemals das Tageslicht gesehen zu haben, wenn man mal die morgendliche Fahrt zum Dorfladen außen vor ließ? Plötzlich war es draußen warm, es war Frühling geworden und alle hatten das Gefühl irgend etwas zu verpassen.

Doch wir waren in der Zwischenzeit natürlich nicht untätig geblieben. Mittlerweile hatten wir das übliche Interviewmarathon hinter uns gebracht, einige Autogrammsessions abgehalten, wir hatten uns die Ohren wund telefoniert und die immer gleichen Fragen der Journalisten beantwortet, die neuen Songs geprobt, wir hatten ein Video in einer verlassenen Irrenanstalt gedreht und nun stand unsere neue CD "Sängerkrieg" in den Läden und hatte sogar Madonna Louise Veronica Ciccone vom ersten Platz der Longplay-Charts vertrieben. Ob sie davon überhaupt etwas gemerkt hat? Nun ja, es war ein kurzer und schöner Augenblick, den uns niemand mehr nehmen kann. Doch um ehrlich zu sein haben ja nicht wir Madonna entthront, sondern die In Extremo-Fans. Dafür noch einmal ein großes Dankeschön!
Die Charts, so werden ja alle Indiebands nicht müde zu betonen, sind dermaßen uncool und sowieso kein Maßstab für eine gute CD, zudem hat sich jede Band bereits bedingungslos dem Mainstream verkauft, die auf den ersten 10 Plätzen landet und mehr als 25 Tonträger verkauft - ausgenommen die eigenen Kapelle natürlich. Wie ihr wisst waren uns solche Vermutungen schon immer völlig egal und wir haben uns, vielleicht auch gerade deshalb, gefreut wie kleine Schuljungs. Seien wir mal ehrlich: Ein erster Platz ist für jeden Musiker, trotz aller Einwände, immer noch das Allergrößte. Es ist als hätte man die Welt in einem Segelboot umrundet oder sich in das Gipfelbuch auf dem Mount Everest eingetragen - es ist auf jeden Fall etwas ganz Besonderes. Doch zurück zur wirklichen Welt: Madonna ist wieder dort angekommen wo sie seit gefühlten fünf Jahrzehnten steht und das Radio spielt immer noch all die Lieder, die wir so lieben. Oder etwa nicht? Wir haben die Welt leider nicht verändern können. Ein sehr ironischer Mensch hat mal gesagt, dass jedes Land die Musik bekommt, die es sich verdient hat! Vielleicht besteht ja noch Hoffnung.

Doch fangen wir ganz von vorn an, denn am 30.April fanden wir uns bereits zu einer kleinen warm up-show in Jena ein und wollten ein paar unserer neuen Songs vor 700 Testpersonen zum besten geben. Warum ausgerechnet in Jena? Erstens weil wir einen ungewöhnlich guten Draht zu Thüringen haben (das ist bestimmt den wenigsten entgangen) und zweitens weil unser alter Freund Alf, Veranstalter im dortigen F-Haus, seit mehreren Jahren versucht ein Konzert mit uns zu organisieren, währenddessen die bösen In Extremo-Jungs überall in Thüringen spielten - nur eben in Jena nicht. Nun hatte es also doch geklappt und eine gnadenlose Rundumversorgung war uns sicher. Kurz vor Konzertbeginn merkte ich, dass die komplette Band an gehörigem Lampenfieber litt, denn die letzten Beruhigungswasser leerten sich in rasender Geschwindigkeit und die Aufregung war jedem einzelnen im Gesicht abzulesen. Als Konzertauftakt, oder besser anstelle des Intros, gab es an diesem Abend unser neues Video zu "Frei zu sein" zu sehen. Wir waren sehr gespannt auf die Reaktionen, denn immerhin war dies ja auch die Videopremiere überhaupt - und schließlich kann es selbst beim Recht der ersten Nacht ja auch mal nach hinten losgehen. Anschließend gaben wir ein lockeres Konzert wie schon lange nicht mehr. So eine kleine Bühne hin und wieder tut uns anscheinend richtig gut.
Am 14.5. machten wir einen kleinen Ausflug nach Köln, um bei Stefan Raab unsere neue Single "Frei zu sein" live vorstellen zu können. So ein Tag zieht sich ewig in die Länge und das Nichtstun wird nur hin und wieder durch eine kurze Probe und eine weitere Tasse Kaffee unterbrochen. Ich bekam die Melodie von Blurs "Coffee & TV" auch erst auf der Rückfahrt wieder aus dem Kopf. Dann endlich, kurz nach dem Koch der Fußballnationalmannschaft, durften wir auf die Bühne und unser Lied spielen. Bei TV total wird live gespielt, was eigentlich im Fernsehen mittlerweile sehr selten ist. Dementsprechend live klang es bei uns dann auch, zumal es keine Möglichkeit gab, selbst den Ton zu mixen, zumindest nicht für das Fernsehen. Aber egal, lieber live als sich blöd zur Konserve bewegen zu müssen. Und wer es besser kann, der sollte es tun.

Ungewöhnlicherweise begannen wir die Festivalsaison in diesem Jahr in Spanien, genauer gesagt auf dem Mediatic Festival in La Nucia in der Nähe von Alicante. Trotz des schönen Namens wurde das Festival leider nur ein Quer-durch-den-Gemüsegarten-Festival, auf dem wir im Anschluss an etwa 10 spanischsprechende Bands die zweifelhafte Ehre hatten, früh gegen 3:00 Uhr den Rausschmeißer zu spielen. Bei dieser Uhrzeit versagte sogar das Durchhaltevermögen der ansonsten partyerprobten Spanier, zumal es schon den ganzen Abend hindurch nieselte. Ich kann das Festival leider auch im Nachhinein nicht schön reden, bis auf die Tatsache dass wir ein wunderschönes Hotel direkt am Strand hatten. Genau dort prosteten wir, mit den verbliebenen spanischen Musikern, kurze Zeit später dem Sonnenaufgang zu.
Ein paar Tage später ging es dann in die Schweiz zum Greenfield Festival nach Interlaken. Das Grüne Feld liegt inmitten der Schweizer Berge und ist im eigentlichen ein Flugplatz, der einmal im Jahr seiner Funktion beraubt wird. Doch auch mit diesem Festival versucht man natürlich ähnliche Dezibelwerte erreichen zu können, welche hier sonst nur beim Starten der Maschinen vorkommen. In diesem Jahr versuchten sich In Flames, Bullet For My Valentine und The Offspring auf der großen Bühne daran, die Kulanz der Schweizer Behörden auf die Probe zu stellen. In Extremo, Enter Shikari und Apocalyptica hatten es im großen Zelt hingegen etwas einfacher. Festivals wie diese sind ja immer ein willkommener Anlass dafür, sich auch mal ein paar andere Bands quasi umsonst und aus nächster Nähe betrachten zu können, doch manchmal merkt man eben auch, dass die lieben Kollegen letzten Endes auch nur mit Wasser kochen. Während zum Beispiel Bullet For My Valentine gnadenlos die Hütte rockten, kamen The Offspring ziemlich hüftsteif über die Bühne. Ich mag die Band eigentlich für ihre unbekümmerten Songs und hatte sie wesentlich cooler in Erinnerung, doch das Konzert, zumindest die letzte halbe Stunde die ich noch sehen konnte, erinnerte mich eher an einen Tanztee für ältere Herrschaften bei der Volkssolidarität Berlin-Marzahn. Ich hatte dort - vor langer, langer Zeit und in einem anderen Leben - aus extremen Geldmangel mal einen Aushilfsjob bei einer Tanzmusikkapelle übernommen. Ich möchte das hier nicht weiter ausführen, aber glaubt mir: Ich weiß wovon ich rede! Glück für uns, denn The Offspring begannen eine halbe Stunde nachdem wir die Bühne am anderen Ende des Festivalgeländes geentert hatten. Das Zelt lichtete sich für kurze Zeit am Horizont, um nach 20 Minuten dafür umso voller zu sein. Ein bisschen Stolz machte uns das natürlich schon.
Dann näherte sich auch schon der Termin des Feuertanz Festivals auf der Burg Abenberg. Ich vermutete im Vorfeld ein Festival der Eitelkeiten oder zumindest eine Materialschlacht sondersgleichen auf der recht kleinen Bühne, aber es hielt sich Gott sei Dank alles in Grenzen. Selbst die-Band-die-uns-nicht-kennt war relativ entspannt und grüßte, wenn auch äußerst zurückhaltend. Aber mal im Ernst, trotz aller Konkurrenz haben alle anwesenden Bands auf diesem seit Monaten ausverkauften Konzert doch eigentlich dasselbe Problen: Egal ob hohe Chartplazierungen, eine großen Szene, ausverkaufte Festivals - sie alle werden von den Fernseh- und Radiostationen sowie dem Großteil der Presse weitestgehend ignoriert. Wem nützt da ein gegenseitiges Dissen? Man muss sich nicht vor Liebe in den Armen liegen, etwas gegenseitiger Respekt tut es manchmal auch. Und scheinbar funktioniert das auch, sobald man sich gegenübersteht.
Doch der Tag begann erst einmal mit einem großartigen Frauenfußballturnier auf dem Sportplatz, der sich direkt neben dem Nightlinerstellplatz befand. So trat der denkwürdige Fall ein, dass die Crew und Teile der Band am frühen Morgen bereits an der Linie saßen und der genervten Torwartfrau fachkundige Ratschläge erteilten. Auch vor Einwechseltipps wurde nicht halt gemacht, schließlich war gerade EM und knapp 80 Millionen deutsche Trainer wussten ohnehin alles besser. By the way unterscheiden sich Frauenturniere nicht die Bohne von Turnieren der Männer: Das Publikum erteilt lautstark Anweisungen, oftmals mit einer angebrannten Kippe in der Hand, wie einst Cesar Luis Menotti, und es gibt Bier, fette Steaks und Bratwurst. Nur die Schiedsrichterbeleidigungen fallen etwas subtiler aus.
Nach dem großartigen Sieg von Poppenreuth (großes Hallo!) über Abenberg wurde es dann aber auch Zeit um auf die Burg zu ziehen, wo die frauenfußballdesinterressierten Zuschauer bereits seit Stunden in der prallen Sonne standen und das Geschehen auf der Bühne verfolgten. Abenberg hat definitiv einen guten Draht zum Wettergott, denn ich habe es noch nie erlebt, dass hier auch nur ein Wölkchen am Himmel zu sehen war. Wir trieben uns derweil auf dem Konzertgelände herum, versuchten zu duschen, gaben ein paar Interviews und warteten ansonsten im Backstagebereich auf unseren Einsatz. Musiker zu sein ist ein sehr schöner Beruf, aber die Zeit die man mit Warterei verbringt, ist wirklich ätzend. Bill Wyman, der ehemalige Bassist der Rolling Stones, beantwortete deshalb auch einmal die Frage, was das Schlimmste an der Zeit mit seiner Band war mit: "Die ewige Warterei darauf dass etwas passiert!"
Dann endlich, kurz nach 22 Uhr, durften In Extremo auf die Bühne. Endlich wieder zu Hause! Wir hatten im Vorfeld das Programm für den heutigen Abend etwas umgestellt und wollten ein paar neue Stücke vom "Sängerkrieg" vorstellen und dafür ein paar Stücken der ewigen Bestenliste eine kleine Auszeit gönnen. Die restlichen Songs wollten wir uns für unsere eigentliche Tour zum Album im Herbst/Winter aufsparen. Nach langer Diskussion fiel auch die Entscheidung, unsere beiden Nationalhymnen "Ai Vis Lo Lop" und vorallem den "Spielmannsfluch" unter den Tisch fallen zu lassen, denn beim Durchspielen des Programms hat unser Elan bei diesen beiden Liedern immer wieder schlagartig nachgelassen. Wir schlossen schon Wetten ab ob diesen Song nach all den Jahren nun wirklich noch irgend jemand vermissen würde. Doch anscheinend ist der Mensch wirklich ein Gewohnheitstier und irgendwann wird eben der "Spielmannsfluch" zu einem wahren Spielmannsfluch, denn schon die ersten Gästebucheintragungen am nächsten Tag lauteten: "Geiles Konzert! Aber wo war der Spielmannsfluch! Manchmal denke ich dann belustigt an die Entstehungsgeschichte dieses Songs und die Diskussionen mit unserer damaligen Plattenfirma, die dieses Lied partout nicht auf der CD haben wollte. Sie meinten dieser Song klinge wie eine alte Aufnahme von Ton Steine Scherben und hätte einen viel zu langen Text, den sich ohnehin niemand merken würde...
Von einer wirklichen Ius Primae Noctis-Tour kann man ja nicht wirklich sprechen. Wir wollten unseren Burgenkonzerten einen eigenständigen Namen verpassen, um daraus in der Zukunft vielleicht so etwas wie eine Institution werden zu lassen, eine wiederkehrende Tradition ähnlich der Weihnachtstour. Für uns ist es eine schöne Erfahrung, an nicht ganz so alltäglichen Orten Konzerte zu spielen oder einige Spielstätten wieder aus dem Dornröschenschlaf zu erwecken, wie etwa die Naturbühne in Steinbach-Langenbach. Doch zwischendurch wollen wir die Open Airs natürlich auch nicht missen und so flogen wir am 4.Juli nach Venedig, um von dort zum Metal Camp ins slowenische Tolmien zu gelangen. Von Venedig ging es dann mit zwei Sprintern über die italienische Autobahn, um uns dann ab der slowenischen Grenze auf einer Landstraße durch die Alpenausläufer zu schlagen. Irgendwann hielten wir mitten in der Pampa in einem klitzekleinen Dorf, welches romantisch an einem kleinen Fluss gelegen war, an einem Wegweiser, der ins Gebüsch zu einem Hotel wies. Wir irrten sehr skeptisch den Weg entlang, überquerten eine Brücke und entdeckten wenig später einen versteckten Hinweis auf das Etablissement. Eine kleine Wanderung später fanden wir das Hotel schließlich, es lag ebenfalls am Fluss, hatte eine große Terasse und kaltes Bier.

Wir hatten fast vergessen aus welchem Grund wir eigentlich in Slowenien waren, doch wir hatten noch massenhaft Zeit, da wir die letze Band heute Abend waren. Eine Stunde vor Mitternacht fuhren wir schließlich zum Festivalgelände und es begann zu regnen. Kurze Zeit später befanden wir uns im Backstagebereich wieder, der in einem ehemaligen Bordell untergebracht war, also einer Rockband mehr als angemessen. In Flames, die Band die in jedem Metalmagazin direkt hinter uns auftaucht, hatten gerade mit ihrer überdimensionierten Pyroshow für einen kompletten Stromausfall auf der Bühne gesorgt. Das konnte ja heiter werden. Wurde es dann erfreulicherweise auch, denn nach der üblichen Hektik des Umbaus hörte es auf zu regnen und wir konnten zu spielen beginnen. Hatte ich da gerade einen Ruf nach dem "Spielmannsfluch" vernommen? Wir haben ihn wieder ins Programm genommen, erst einmal auf Bewährung. Aber spätestens bis zur "Sängerkriegtour" im Herbst/Winter sollte auch der Letzte ihn auswendig gelernt haben, denn dann werden wir unsere Drohung wohl wahr machen. Vielleicht. Wahrscheinlich. Höchstwahrscheinlich!
Am nächsten Tag feierten wir Pymontes Geburtstag wie es sich gehört. Bei 30 Grad im Schatten wurden sämtliche Plastikstühle des Hotels eingesammelt und in den flachen Bach gestellt, um dort zu feiern. Und gerade als wir begannen uns an Slowenien zu gewöhnen, rief auch schon die Shuttle-Besetzung, um uns wieder zurück nach Venedig zu bringen.

Fortsetzung folgt....