Kunstraub Tourtagebuch Teil 2

19.11.2013

Hamburg, Sporthalle, 1.11.2013:
Heute ist der erste Novembertag, doch das Wetter draußen vor dem Busfenster lässt eher einen schlechten Apriltag vermuten, als das quasi der Winter vor der Tür steht und es nur noch knappe 7 Wochen bis Weihnachten sind. Es gießt wie aus Kübeln und ich drehe mich noch einmal um und versuche die Zeit hinauszuzögern. Was soll man auch den Technikern im Wege stehen, die ab früh um 9:00 Uhr schon die Bühne aufbauen. Fünf Minuten später bilde mir ein, dass es kaum erst 10 Uhr ist und überrede mich selbst zu einem Frühstück, um danach vielleicht noch ein paar passende Worte für das Tourtagebuch zu finden und stelle mit Erschrecken fest, dass es schon fast früher Nachmittag ist. Also hoch! Kaum auf Tour, schon steckt man wieder mitten in der Raum-Zeit-Schleife. Vor einem Jahr waren wir zum ersten Mal hier und ein paar der Anwesenden hatten uns erklärt, dass die Sporthalle nicht zu den beliebtesten Läden in Hamburg gehören würde. Was soll man machen? Die Freiheit ist zu klein und man darf kein Feuerwerk abfackeln – und die Docks sind auch zu klein, nur dass dort beim ersten Fackelschein schon das Wasser von den Wänden tropft, während es hier in der Sporthalle vor einem Jahr sogar so kalt war, dass wir bis zum Einsatz der Lycopodium-Anlage auf der Bühne gefroren haben. Sollten wir das nächste Mal vielleicht doch wieder zwei Mal in der Freiheit spielen? Der riesige Backstage-Bereich bot eine hervorragende Aussicht auf den Parkplatz, über den ständig junge Polizisten der sich direkt nebenan befindlichen Polizeischule liefen. Micha saß derweil am Fenster und rief die Vorbeilaufenden unter großem Hallo zur Umschulung auf, zu der es angeblich nie zu spät wäre! Mädels, lernt was Ordentliches! Da gab ja gerade der Richtige Hinweise auf eine ordentliche Berufskarriere ;-) Stunden später gab es nicht die geringste Spur von nordischer Zurückhaltung und auch des Doktors persönliche Gästeliste, die weit von der Insel Rügen angereist war (und schon wenige Minuten nach der Ankunft bereits mehr als fahruntüchtig war), vergaß ihre hanseatische Bescheidenheit und gab schon im Backstage Vollgas. Hamburg bessert sich, ganz gewaltig!

Leipzig, Haus Auensee, 2.11.2013:
Leider erreichte uns ganze 5 Tage vor unserem Auftritt in Leipzig die Nachricht, dass sämtliche Pyrotechnik im Haus Auensee zukünftig verboten ist. Großartig, denn nachdem wir hier nun schon mehrfach zugegen waren, fiel den Leipziger Amtsschimmeln nichts weiter ein, als mit dem erfolgten Umbau des Hauses einfach alles Weitere infrage zu stellen bzw. zu verbieten. Wir diskutierten natürlich die Tage zuvor, wie wir mit der neuen Situation umgehen sollten, schließlich ist das Konzert in Leipzig für uns so gut wie ein Heimspiel und es erwartete uns ein ausverkauftes Haus. Sollten wir das ganze Konzert absagen? Was ist mit den Fans, die von weither anreisen und Hotels gebucht oder sich Urlaub genommen haben? Funktionieren In Extremo überhaupt noch ohne Pyroshow oder ist sie mittlerweile nicht mehr wegzudenken? Wir haben uns entschlossen trotzdem zu spielen – Gott sei Dank – denn die Stimmung, die uns hier erwartet hat, ist schon (fast) vergleichbar mit der in unserer Hochburg Thüringenhalle in Erfurt oder in der Columbiahalle in Berlin, beides ja noch Orte, die auf der Tour noch vor uns lagen. Die lange Umbaupause des Saals hat sich wirklich gelohnt, obwohl die Bühne immer noch zu den etwas kleineren gehört und wir so einiges an Equipment im Truck lassen mussten. Der Backstage war nicht wiederzuerkennen und selbst in der oberen Backstageetage hat das Geld für neue Duschen gereicht. Auf dem Weg dorthin bin ich allerdings vor Lachen fast zusammengebrochen, denn in einer der vielen Räume dort oben entdeckte ich einen alten, extrem schief hängenden Garderobenhaken, den ich schon bei unseren vorherigen Auftritten immer wieder bewundert hatte. Er hat sich über die Jahre gehalten und wird auch noch die nächsten 50 Jahre überdauern, wenn Generationen Leipziger Malerfirmen wieder drum herum gepinselt haben. Das ist wahrer Denkmalschutz und gefällt mir äußerst gut. Fehlt noch ein Wort zum Konzert, aber was soll ich sagen? Leipzig wird immer besser und besser, da können sich Erfurt und Berlin schon mal warm anziehen ;-) Und dass wir hier heute Abend so ganz ohne Pyrotechnik auf der Bühne standen, hat am Ende des Tages nur die Allerwenigsten interessiert.

Stuttgart, Porsche-Arena, 9.11.2013:
Schon wieder so ein gigantischer Name: Porsche-Arena! Aber die Halle entpuppte sich dann doch als sympathischer Auftrittsort und kam nicht so hochtrabend daher wie der gleichnamige, unbezahlbare Sportwagen. Letzten Endes kommt es darauf an, was man aus dem Laden macht – und heute durften wir hier mit vollem Set – soll heißen kompletter Pyrotechnik – auftreten, was schon morgen in der Schweiz wieder anders aussehen sollte. Dort war es so, dass wir mit einer Schweizer Firma hätten Feuer machen dürfen – allerdings ging die Genehmigung eher in Richtung Kindergeburtstag bzw. Torte mit 6 Kerzen zum Ausblasen. Den Anblick wollten wir dann euch und uns lieber ersparen. Allerdings nehmen wir einen unserer Pyrotechniker, trotz Verbots, weiterhin mit – unser Mann, genannt „Fliese“ spielt beim „Gaukler“ den traurigen Clown (und hat sichtlich Freude daran, das könnt ihr mir glauben). Doch zurück zu Porsche & Co. Nachdem wir gen späten Mittag wieder aus der Zeitschleife gefallen sind, lagen unsere Sachen ordentlich ausgebreitet über den Stühlen. Und was musste ich da entdecken? Frisch gewaschene Unterwäsche einiger Herren Musiker! Herr Wegewitz, unser Backliner verdient sich also gern noch einen Euro als Waschfrau dazu und kümmert sich auch sonst wie eine Mutter um uns. Ich werde in der kommenden Woche den Wäscheberg meiner Familie dann auch unauffällig neben meinem Garderobenkoffer liegen lassen und eine Woche später frisch gewaschen (und gebügelt?) wieder mit nach Hause nehmen. Apropos Wäsche: Unsere feierwütige Supportband „Hassliebe“ leiht uns regelmäßig frische Socken, die wir in der kommenden Woche dann wieder zurückgeben – entweder als Sechserpack aus dem Supermarkt – oder besser noch: frisch gewaschen durch den Herren Backliner. Nicht nur, dass „Hassliebe“ gut einheizen, nein, auch sonst super Service. Dann wurde anschließend auch noch die Halle in Grund und Boden gerockt, ich wollte das Wichtigste nicht unterschlagen. Ab und zu konnte ich mir einen Seitenblick auf mein Verstärkerrack nicht verkneifen, denn nachdem mein Blacksmith-Verstärker von tc electronic beim Konzert in Hamburg etwas grummelte, kam prompt ein Reserve-Verstärker aus Dänemark, den mir Herr Wegewitz zur Sicherheit noch schnell ins Rack einbaute. Zwischen beiden Verstärkern mit je 1600 Watt eingeklemmt befand sich zusätzlich mein kleiner Reserveamp mit 750 Watt, was zusammen schlappe 3950 Watt bedeutete. Wahnsinn, damit wurden im Osten früher Open Airs beschallt ;-), aber zur Freude meiner Ohren (und wohl auch der Boxen) konnte ich der Versuchung widerstehen, wenigstens zum Soundcheck einmal beide Schalter umzulegen.

Zürich, Komplex 457, 10.11.2013:
Also, Humor haben sie ja, die Schweizer. Als ich durch den trüben Regen aus unserem Backstagefenster gegenüber auf die andere Straßenseite starrte, entdeckte ich dort ein riesiges Schild einer Autowaschanlage mit dem Slogan „Staubsager zum Saugen & BLASEN!“ – das Letztere übrigens wirklich in Großbuchstaben. Ansonsten gibt es mit dem Komplex 457 endlich mal einen richtiger Rockschuppen in der Stadt, der den Namen auch verdient. Und wie es aussah, scheint es den Zürichern genauso wie den Musikern oben auf der Bühne zu gehen, denn die Stimmung im Saal war geradezu unfassbar. So hatten wir die Schweizer gar nicht in Erinnerung…

Weissenhäuser Strand, 15.11.2013:
„Sehr geiler Auftritt am Freitag beim Metal Hammer Paradise! Höre euch schon seit 1998 sehr gern… hatte euch aber noch nie live gesehen! War absolut begeistert, aber auch erstaunt… dachte ihr seid älter… ☺ Wart ihr vor 15 Jahren noch minderjährig ☺!?“ Besser hätte ich es auch nicht schreiben können als Sascha aus Irgendwo. Obwohl man alten Säcken ja immer gern Ideenlosigkeit und ein müdes Auftreten auf der Bühne bescheinigt, habe ich gerade den Eindruck, dass In Extremo nie besser waren als jetzt. Klar kann man es nicht für jeden perfekt machen und so hat immer jemand etwas zu meckern – ob fehlende Lieblingssongs auf der Titelliste, eine abgesagte Pyroshow, zu hohe Eintrittspreise, was weiß ich. Auch hat nicht immer jeder während einer kompletten Tournee seinen besten Tag – aber wenn es stetig so weiter gehen sollte wie bisher, dann habe ich fast Angst vor dem Älterwerden ;-) Das konnte ich auch bei Saxon feststellen, die vor uns im Zelt eine grandiose Show abgezogen haben. Wenn ich überlege, dass ich diese Band mit 16 geliebt habe und Sonntag für Sonntag mit dem Kassettenrekorder vor dem Radio saß, in der Hoffnung, dass in der Hardrock-Stunde wenigstens ein Titel von Saxon oder Motörhead läuft, dann Hut ab: Saxon sind mit Würde ergraut. Das kann man ja leider nicht von jedem behaupten. Ansonsten ist die Idee Festivals am Weissenhäuser Strand zu veranstalten echt genial – und umso besser, dass nach dem Rolling Stone Weekender nun hier auch ein Metalfestival wie das Paradise platziert werden soll. Eine Ferienanlage mit allem Drum und Dran auch im Herbst und Winter zu nutzen ist eine coole Idee und es wäre zu wünschen, dass sie sich auch durchsetzt. In Extremo würden jedenfalls gern noch einmal dort spielen.

Berlin, Columbiahalle, 16.11.2013:
Von der Ostseeküste nach Hause zu kommen, um dort ein Konzert zu spielen, ist schon ein verdammt merkwürdiges Gefühl und ich muss zugeben, dass in Berlin ausnahmslos die gesamte Band aufgeregt die Bühne betritt, schließlich will man hier nicht nur ein sehr gutes Konzert hinlegen, sondern man steht ja auch irgendwie unter Beobachtung der versammelten Gästeliste aus Familie, Verwandten, Bekannten und Freunden – und mindestens jeder zweite von denen schwört ein Instrument zu spielen. Anyway: Die Gästeliste erreichte wieder ungeahnte Höhen, die Spannung stieg und… ??? Hinterher hat man immer alles schon gewusst. Nein, man war nicht aufgeregter als sonst, natürlich nicht ☺ Vielen Dank also in die Heimat für diesen Support und diese Stimmung! Berlin ist einfach nicht zu toppen, oder? Bei solchen Konzerten fliegt man wie im Wahn durch die knapp zwei Stunden, hat keinen Blick nach links und rechts, keine Zeit zum Genießen – und es dauert wieder ein paar Tage, bis man dann wieder in der Realität angekommen ist.