Toutagebuch 1999

20 Sep 1999   Kay Lutter

Das „Rock Hard“-Tourtagebuch 1999 – Teil 1

20.9.99, Hamburg-Markthalle

Liebes Rock Hard, ich, Die Lutter, wurde nun für diesen undankbaren Job auserkoren, jeden Morgen, wenn alles noch tief unter den Matratzen vergraben liegt und friedlich dahingrunzt, ein Tourtagebuch verfassen zu müssen. Eine Art „Mein schönstes Ferienerlebnis“ also. Und weil der gute Wolf Mühlmann derweil über die „Neue Deutsche Härte“ schreibt, werde ich es mal mit der „Neuen Deutschen Rechtschreibung“ probieren - da ich ja weiß, dass ihr Ignoranten seid. Auch der gemeine Spielmann darf sich dem Neuen ja nicht verschließen! Hamburg, Markthalle, Tourstart! Was liegt also näher, als den Bogen zur Schifffahrt (mit 3 f) zu kriegen? Ja, scheiße eigentlich, denn bis auf Saal, Kühlschrank, Dusche und eventuell dem örtlichen Musikgeschäft werden uns die Geheimnisse der jeweiligen Tourstädte wohl auf ewig im Verborgenen bleiben. Nix mit Schifffahrt also. Gerade bezüglich Hamburg erreicht die Trauer um dieses Dilemma schon seinen ersten Höhepunkt: die Herbertstraße, der FC St. Pauli, unsere Plattenfirma... die Reihenfolge müsste passen! Die Frage, wie viele Leute denn zu unserer Tour kommen werden bleibt spannend, vor allem da wir in diesem Jahr wohl schon „um jeden Fahrradständer“ gespielt haben. Über 800 Leute in der Markthalle machen aber Mut für die nächsten Tage, vor einem knappen Jahr waren es noch gut zwei Drittel weniger. Ehrlich gesagt sind wir selbst immer noch überrascht was wir in den letzten 2 Jahren so angerichtet haben... Auf der Bühne der Hamburger Markthalle tropfte es von den Wänden - mehr will ich zu diesem Konzert eigentlich nicht sagen! Ich hoffe wir können die Latte da oben noch eine Weile hängen lassen.

PS: Anstatt 10 Kilo Trockeneis wurden uns heute 10 Kilo Trockenreis angeliefert! Vielen Dank, das freut die Vegetarier in der Band! Das soll’s fürs erste gewesen sein,
viele Grüße von Die Lutter

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21.9.99, Braunschweig - FBZ Bürgerpark

Saunatour, 2. Tag. Heute ging es für IN EXTREMO in unerschlossenes Gelände-nach Braunschweig. Das FBZ „Bürgerpark“ liegt, wie der Name schon vermuten lässt, in einem kleinen Park in der Nähe des Stadtbades. Das erwies sich für uns natürlich als Volltreffer, so dass als erstes, nach den obligatorischen 5 Litern Kaffee,die Sauna gestürmt wurde. Mit einem Nightliner durch die Gegend zu kurven ist zwar auf den ersten Blick ganz praktisch, aber schon am 2. Tag beginnt das Innenleben des Busses, mitsamt den Insassen, einen ganz eigentümlichen Geruch zu entwickeln. Der Tourbus scheint auch eher als Exportschlager für den chinesischen Markt konzipiert gewesen zu sein - oder aber als Transportmittel für den Brieftaubenzüchterverein-irgendwann beginnt jeder von eigenen Betten zu träumen. Das FBZ hat auf den ersten Blick den Charme des Palastes der Republik in Ostberlin. Was die Architektur betrifft, scheint also auch Westdeutschland gegen Ende der 60ger in einer tiefen Krise gesteckt zu haben. Der Saal eignete sich jedoch hervorragend zum Hockeyspielen und Inline skaten. IN EXTREMO sind natürlich bestens ausgerüstet, inklusive Hockeyschlägern, Toren (mit Netz!!!) und allem was dazugehört. Nur die Haustechnik scheint von unserem ersten Testmatch nicht besonders begeistert gewesen zu sein. Apropos Haustechnik: Unser Soundcheck nimmt langsam guinessbuchverdächtige Formen an, wir nähern uns zielstrebig der 5-Stunden-Schallmauer. Unsere Vorband SUBSTYLE nimmt’s scheinbar gelassen hin. SUBSTYLE erweisen sich sowieso als echt angenehme Mitmenschen. Sie hatten die Befürchtung, auch bei IN EXTREMO das Los so vieler Supportbands teilen zu müssen und vom Publikum gnadenlos ausgepfiffen zu werden.
Aber unser Publikum erwies sich bis jetzt als super tolerant und offen. Vielen Dank dafür auch noch einmal von uns! In Braunschweig konnte ich mir auch endlich einmal das gesamte Set der Band anhören-ich kann sie euch nur ans Herz legen.

Um 22.00 Uhr wurde es dann auch ernst für uns. Der frenetische Empfang des Publikums lässt auch unsere Anspannung schnell verschwinden. Leider erkennt man von der Bühne-zumindest von meinem Podest aus-nur die ersten 3 Reihen. Wenn überhaupt! Schade eigentlich, aber zumindest in Braunschweig spielten sich die schönsten Dinge in der ersten Reihe ab: Morgensterns persönlicher Fanclub, bestehend aus Mutter und Tochter, lasen die Texte der neuen CD von mitgebrachten Bierdeckeln ab. Platz 1 meiner persönlichen Wertung! Nach 3 Zugaben durften wir dann von der Bühne. Die Tour scheint sich wirklich zu einer Saunatour zu entwickeln, die Schweißausbrüche von Hamburg konnten heute abend locker getoppt werden. Heute war der „Spielmannsfluch“ zum ersten Mal mit dabei. Ungeprobte Songs schiebt man natürlich so lange vor sich hin, bis es plötzlich Ernst wird. Die Band hat sich aber gut aus der Affäre gezogen. Von uns völlig unerwartet scheint gerade der „Spielmannsfluch“ zu einem kleinen Hit zu werden. Ebenso überrascht waren wir damals von den Reaktionen auf „Vor vollen Schüsseln“ von der ersten CD. Manchmal entwickeln die im Studio noch stiefmütterlich behandelten Songs ein interessantes Eigenleben. Wieder im Nightliner gab unser Rock-Hard-Mühlmann noch Schwänke aus seinem bewegten Leben zum Besten. Er hat sich auf das Wagnis eingelassen, uns ganze 5 Tage im Bus zu begleiten. Das Abblocken der Rülpser klappt aber schon ganz gut, man merkt eben sofort, dieser junge Mann ist schon lange im Musikgeschäft. Zum Abschluss des Abends, so bis kurz vor Essen auf der Autobahn, hielt Doc Snyder noch einmal die Welt in Atem - bis wir uns die Lichter ausgeblasen haben! Scheiß Sonnenaufgang!
Bis morgen, Die Lutter!

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22.9.99, Essen - Zeche Carl

Was habe ich mir da angetan, mir jeden Tag etwas Spektakuläres aus den Fingern saugen zu müssen? Aller guten Dinge sind ja bekanntermaßen drei, also 3. Tourtag, Zeche Carl, Essen! Apropos Essen: das Frühstück war phantastisch und sorgte gleich für gute Laune. Vielen Dank noch einmal für die Mühe der Essener Crew, wenn so der Tag beginnt kann eigentlich nichts mehr schief gehen. Naja, jedenfalls fast. Und da ich gerade bei den Ordensverleihungen des heutigen Tages bin, den Großen Vaterländischen Verdienstorden in Gold mit Lametta bekommt heute unser Busfahrer Carsten für das rückwärts Einparken und gleichzeitigem Wenden auf einer Briefmarke! Die Autofahrer in der Band erblassen jedenfalls regelmäßig vor Neid. Der Krankenstand innerhalb der Kapelle erhöht sich stündlich. Parallelen zu Hertha BSC sind nicht von der Hand zu weisen, der Vergleich hinkt natürlich insofern, als dass unsere Ersatzbank noch dürftiger besetzt ist. Nachdem es Thomas bei unserem ersten ernsthaften Hokeymatch zwischen der Rock-und der Dudelsackfraktion an der rechten Hand erwischt hat (böse Zungen sprechen im Übrigen von einem etwas ungleichem Duell zwischen der C-Jugend und den Alten Herren-die Rockfraktion ging trotzdem nach einem überragendem Showdown mit 10:9 als Sieger vom Feld), hat Micha Probleme mit seiner Stimme. Wie sich das weiter entwickelt werden wir abwarten müssen. Ich will mal hoffen, dass wir die Tour noch heil über die Runden bringen.

Die Zeche war ausverkauft! Und nachdem mittlerweile schon BH ́s und T-Shirts auf die Bühne flogen war heute in Essen auch eine Brille (!!!) dabei. Klasse Einfall! Irgendwer scheint da als Maulwurf nach Hause gegangen zu sein und seinen spontanen Einfall bitter bereut haben. Na, macht ja nix, es war ja eh schon dunkel! Die Lutter verabschiedete sich heute mal als erster vom Kampftrinken um die „Rote Nase“. Hey, das ist ja sonst nicht so meine Art, aber wenn das Sprachzentrum die Leberfunktionen übernehmen muss dann sollte man dem bunten Treiben freiwillig ein Ende setzen. Der liebe Wolf ist mit seiner Kamera natürlich immer im Zentrum des Verderbens (Morgenstern und Lutter beim Bier zapfen), vielleicht sollte die Band die Fotos vor der Veröffentlichung noch einmal zensieren um zumindest das Peinlichste aus der Welt zu schaffen... Irgendwann hat es nachts auch noch in Strömen geregnet. Das ist ja an sich keine einzige Zeile wert, aber IN EXTREMO erachteten es nicht als nötig, die sperrangelweit aufstehenden Dachluken des Nightliners zu schließen...

Bis morgen in aller Frische, Euer U-Boot-Kapitän Die Lutter