Paralleluniversum

05 Jan 2010   Kay Lutter

Der Start zur Tranquilo-Akustiktour stand irgendwie unter keinem besonders guten Stern, denn unser Schlagzeuger Reiner schluckte gleich zur Abfahrt in Berlin zwei Grippostad, um seine vermeintliche leichte Grippe auszukurieren. Irgendwie konnte ich das Gerede um das Pro und Contra einer Grippeschutzimpfung auch nicht mehr hören, denn jeder muss letzten Endes selbst wissen, wie er sich persönlich auf eine Tour vorbereitet. Es ist aber auch jedes Jahr dasselbe Problem, ganz besonders bei einer Band. Bei jeder längeren Tour im November/Dezember hofft man, dass man die Grippezeit zusammen unbeschadet übersteht und die an¬gesetzten Termine auch wahrnehmen kann. Es ist schon nicht so einfach, wenn 16 Leute drei Wochen lang in einem Nightliner unterwegs sind, nur durch einen Vorhang voneinander getrennt.

Nun hatten wir also in Berlin noch nicht einmal den Zündschlüssel umgedreht und schon erwischte uns der erste Treffer. Reiner sah einfach nicht gut aus. So schlief er im Bus bis Dresden durch, aber wir machten uns zu diesem Zeitpunkt noch keine großen Sorgen, denn wir wollten ohnehin in der Dresdener "Tante Ju" noch zwei Tage proben, um dann anschließend dort ein warming up-Konzert zu spielen. Kaum angekommen, lieferten wir Reiner deshalb auch gleich im Hotel ab, damit er sich halbwegs kurieren konnte.
Am nächsten Tag trafen wir uns zum Proben im Klub und alles lief wie gewünscht. Reiner sah zwar immer noch etwas blass aus, aber er fühlte sich halbwegs fit. Zumindest sagte er uns das. Wir gingen die neuen Arrangements der Songs noch einmal durch, versuchten die Percussion noch etwas mehr in Szene zu setzen, während unsere neue Lichtcrew um Nadine und Martin die Bühne ausleuchtete. Am Abend fuhr Reiner wieder ins Hotel, um sich noch etwas auszuruhen.

2.12., Dresden - Tante Ju: Am Tag der warming up-Show erreichte mich mittags der Anruf, dass Reiner so schnell wie möglich ins Krankenhaus müsse. Mein Freund Christoph, der die Show in der "Tante Ju" betreute und zufällig auch als Krankenpfleger in Dresden arbeitet, leitete alles in die Wege und besorgte die Termine bei den betreffenden Ärzten. Ohne seine Hilfe hätte Reiner sicherlich eine Ewigkeit gebraucht, um alles auf die Reihe zu bekommen. Wir standen derweil etwas ratlos im Klub und warteten auf seinen Anruf. Dann kam die Diagnose, dass er vereiterte Mandeln hätte (inklusive der einen oder anderen Komplikation) und sofort operiert werden müsse. Die Tour war damit für ihn schon jetzt beendet.

Es waren noch knappe fünf Stunden bis zum Einlass in der "Tante Ju" und wir gingen alle möglichen Alternativen zu einem Tourabbruch durch. Plötzlich bot sich unser Schlagzeugtechniker Adi an, kurzerhand für Reiner einzuspringen. Er ist selbst Schlagzeuger und kannte natürlich sämtliche In Extremo-Songs in- und auswendig, wenn auch nicht in den neuen Arrangements. Es war eine unerwartete Chance für uns und wir wollten es zumindest ausprobieren. Nach einer Stunde Proben beschlossen wir, dass Adi den Job hervorragend machte und ein Tourabbruch, der immerhin die schlechteste aller Alternativen war, für uns nicht mehr in Frage kam.

Es lief natürlich noch nicht alles perfekt an diesem Abend, zudem ließen wir unser gesamtes Percussionset wieder zurück nach Berlin bringen. Es machte keinen Sinn, jetzt auch noch die neuen Percussionarrangements zu proben, wir mussten uns mit Adi einfach auf das Wesentliche konzentrieren. Reiner fuhr mit einem der Techniker gleich mit nach Berlin und ließ sich noch in der Nacht ins Krankenhaus einweisen, wo er früh um fünf gleich operiert wurde.
Wir sahen unser warming up-Konzert eher als eine öffentliche Probe, auch um bei uns selbst etwas den Druck herauszunehmen. Dem Publikum in der "Tante Ju" gaben wir zur öffentlichen Probe ein Fass Bier aus. Wir würden schon noch ein paar Tage brauchen, um ein eingespieltes Team zu werden, aber Adi spielte sich wirklich souverän durch die Setliste, während Basti und ich neben ihm saßen, die Songs einzählten oder vor bestimmten Teilen Handzeichen machten.

Trotz so mancher Gurke war das Publikum von Anfang an auf unserer Seite, vielleicht ja auch gerade deshalb, weil das Konzert hier schon irgendwie etwas ganz Besonderes war. Adi hatte seine Feuertaufe jedenfalls mit Bravour bestanden und uns allen fiel eine Last von den Schultern.

3.12., Graz - Helmut-List-Halle: In der Nacht ging es dann mit dem Nightliner in Richtung Österreich nach Graz. Hier waren wir bereits im letzten Jahr mit unserer Sängerkrieg-Tour zu Gast, nun waren wir in derselben Halle, nur mit dem Unterschied, dass der Veranstaltungsort dieses Mal komplett bestuhlt war. Irgendwie war uns unser eigener Plan, damit eine etwas feierlichere Atmosphäre schaffen zu wollen, plötzlich selbst nicht mehr so ganz geheuer. Es ist schon ein gewaltiger Unterschied, ob man einem Klassikkonzert lauscht oder seiner Lieblingsrockband, die ein Akustikprogramm spielt, zumal wenn sich die erste Stuhlreihe fünf Meter von der Bühne entfernt befindet. Es ist für beide Seiten ein seltsames Gefühl. Doch irgendwann war auch in Graz das Eis gebrochen, die ersten Zuschauer verließen ihre Plätze, standen auf oder stellten sich links und rechts einfach neben die Bühne. Für Basti, Adi und mich war das ganze weniger ein Problem, denn wir hatten, wie man sich denken kann, mehr mit uns selbst zu tun, als mit dem Publikum. Aber irgendwann in den nächsten Tagen würden wir die Songs auch soweit gefluchtet haben, dass wir auch mit dem "neuen" Schlagzeuger nach vorn spielen und auf die Zeichensprache verzichten könnten.
Bereits wenige Stunden nach Tourbeginn, meistens hat man am ersten Tag gerade so die Autobahn erreicht, ist es bereits wieder passiert und man findet sich in einem völlig eigenen Mikrokosmos wieder. Der Bus und der Backstagebereich sind ein eigener Raum, dem man kaum entfliehen kann. Niemand kann dem anderen aus dem Weg gehen, die Band und die Crew sind permanent anwesend und es gibt selten einen Ort, an den man sich zurück ziehen kann. Man kann es Außenstehenden kaum erklären, aber plötzlich entdeckt man an sich selbst Eigenschaften, die es nur gibt, sobald man mit seiner Band im Tourbus sitzt. Der Tagesablauf ändert sich natürlich, aber interessanterweise auch das Vokabular und der Umgang miteinander. Eine Tour hat deshalb immer eher etwas mit einer Klassenfahrt zu tun, denn mit einer Tournee von erwachsenen Menschen, die zusammen Musik machen. Auch wenn es manchmal etwas nervt, ist man doch im Nachhinein sogar froh, dass nicht alles so steif und festgefahren ist. In Extremo sind ein sehr lustiger Haufen, das verspreche ich euch.

4.12., Luzern - Konzerthaus Schüür: Luzern ist definitiv eine der schönsten Städte Europas. Boris und ich trieben uns deshalb nach dem Frühstück auch den ganzen Tag in der City herum, zumal die Sonne schien und der kleine Backstagebereich nicht gerade zum Dortbleiben einlud. Heute waren wir hier im Konzerthaus Schüür zu Gast, einem kleinen Laden, der sich dafür mitten im Zentrum der Stadt befindet. Er erinnerte schon sehr an unsere Anfangstage mit In Extremo und war mit rund 700 Leuten auch restlos ausverkauft war. Die Schweizer waren heute extrem feierfreudig und nahmen uns die Angst, was vielleicht auch daran lag, dass es heute natürlich keine Bestuhlung und damit etwas weniger "Klassikatmosphäre" gab. Aber auch das würde noch werden. Wir merkten, dass wir allmählich lockerer wurden, zumal wir heute, nach einem langen Sommer auf großen Bühnen, endlich wieder direkt Auge in Auge mit der ersten Reihe spielen konnte.

5.12., Solothurn - Kofmehl: Endlich Schnee, wenn auch nur in weiter Ferne hoch oben in den Bergen am Rand von Solothurn. Im Backstagebereich las ich in einem Stadtführer von Solothurn, welcher die Altstadt in den höchsten Tönen als eine der schönsten Städte der Schweiz lobte. Ich sah aus dem Fenster und entdeckte hingegen, dass der Klub sich direkt an einer Art Autobahnauffahrt befand. Wir waren, wie so oft, mitten in einem Industriegebiet gelandet. Ich ging also erst einmal frühstücken und machte mich dann auf die Suche nach der viel gepriesenen Altstadt. Und wirklich, eher durch Zufall stand ich plötzlich mitten drin. Wahnsinn, leider war aber auch verkaufsoffener Samstag in der Altstadt und der Weihnachtseinkaufswahnsinn war wie überall zugange. Vielleicht sollten wir einfach im Sommer noch einmal wieder kommen. Heute wie gestern gab es übrigens Tränen in den ersten Reihen. Wir waren wirklich gerührt!

In der Nacht ging es dann über 800 km mit dem Nightliner wieder in Richtung Dresden, wo wir den ersten off day der Tour, sehr zur Freude des überaus freundlichen Hotelpersonals, feierten. Unser Neuschlagzeuger Herr Otto titulierte das Hotel übrigens als "Ukrainisches 6-Bett- Familienzimmer".

7.12., Dresden - Lukaskirche: Die Lukaskirche war der erste ausverkaufte Spielort der Tranquilo-Tour, zumindest was die Vorverkäufe in Deutschland anging. Und für uns war es heute auch eine wirkliche Premiere, denn In Extremo hatten bisher noch nie in einer Kirche gespielt. Dementsprechend hoch war auch unsere eigene Erwartungshaltung. Der Sound war wirklich großartig, die Stimmung in der Kirche ebenso. Ich war ja schon oft mit ganz unterschiedlichen Bands in Dresden und muss sagen, dass das Dresdner Publikum generell ganz schwer zu toppen ist. Die Bestuhlung war dieses Mal auch kein Hindernis, vielleicht waren wir in Graz auch einfach zu aufgeregt gewesen. Ich war jedenfalls gespannt auf die nächsten Tage. Dann ging es auch schon wieder weiter nach Potsdam, meiner ehemaligen Heimatstadt.

8.12., Potsdam, Nikolaisaal: Den Potsdamern eilt nicht gerade der Ruf voraus, die Stimmungsvollsten zu sein. Das war vor vielen Jahren, als ich dort in meinen ersten Bands spielte, auch schon so. Erst mit den erfolgreicheren Bands, wenn man denn mal das Brandenburgische verließ und beispielsweise in der Lausitz, in Thüringen oder eben in Dresden spielte, merkte man ziemlich schnell, dass es eben auch anders ging. Das Potsdamer Publikum ist anders. Nichts für ungut, es gibt natürlich auch Ausnahmen, aber ich als Ex-Potsdamer habe schließlich das Recht zu meckern. Aber eines muss ich meiner alten Heimatstadt lassen: Schön ist sie geworden. Was man vielleicht vom Nikolaisaal nicht unbedingt sagen kann, aber okay, der wurde ja auch eher für Klassikkonzerte konzipiert, denn für Bands wie In Extremo. Man merkte es auch ganz deutlich am Personal, dass die mit uns nicht allzu viel anfangen konnten.

Uns konnte es aber egal sein. Ich vertrieb mir bis zum Soundcheck die Zeit in der Stadt und versuchte ein paar der Orte wiederzufinden, an denen ich mich früher immer rumgetrieben hatte.
Dann, pünktlich um 20:00 mit dem dritten Gong, gingen wir auf die Bühne. Ich hatte es geahnt, denn das Potsdamer Publikum war wie vermutet schwer aus der Reserve zu locken. Interessanterweise hatte sich die Stimmung nach unserer Pause komplett gedreht und, zumindest für hiesige Verhältnisse, wurden wir geradezu euphorisch empfangen. Ich hoffe nur, dass das nicht nur am Alkoholausschank während der Pause gelegen hat.

9.12., Bremen - Die Glocke: Am nächsten Morgen, wenn ich die Karenzzeit des Paralleluniversums hier mal gelten lassen darf, wachte ich direkt im Stadtzentrum von Bremen, mit Blick auf das alte Rathaus, auf. Die Straßenbahnen fuhren im gefühlten Sekundentackt direkt an meinem Bett vorbei. Bei dieser Tour ist es wirklich anders, denn während sich die Rockläden meistens in den Industriegebieten furchtbarer Vorstädte verstecken, spielen wir auf dieser Tour fast ausschließlich in den Stadtzentren. Die Glocke, ich hatte noch nie etwas von diesem Laden gehört. Warum auch? Gestern war hier Patricia Kaas zugange und die gehört irgendwie zu den Künstlern, deren Weg ich nicht unbedingt minutiös verfolge.

Die Glocke erinnerte definitiv an "Das Haus das Verrückte macht" in irgend einem der Asterix-Filme. Ich erinnere mich vage an eine Szene, in der Asterix und Obelix versuchen mussten, in eben jenem Haus ein bestimmtes Formular zu besorgen. Es ist schon krass, wie verschachtelt man bauen kann, inklusive diverser Zwischenebenen. Selbst der Fahrstuhl öffnete auf einigen Etagen in 3 Richtungen. Egal, wir mussten ja eigentlich nur die Bühne und das Catering finden. Der Saal der Glocke war wunderschön, groß und mit lederbezogenen Sitzen. Aber er verströmte eben auch ein ganz eigenes Flair und man fühlte sich auf der Bühne sofort wie zu Hause.

Unsere Merchandiser Puck und Biber testeten sich derweil auf dem Weihnachtsmarkt durch das Glühweinsortiment. Biber wusste anschließend stolz zu berichten, dass er es war, den man auf dem Markt ständig fotografierte und das er dem beleidigten Weihnachtsmann irgendwie die Show gestohlen hatte. Bibers Bart ist ja auch definitiv der coolere.

10.12., Erlangen - Heinrich - Lades - Halle: Nieselregen, Nieselregen, Nieselregen, das würde also wieder so ein Tag werden, den man am liebsten im Bett verbringen würde. Da die Busbetten allerdings auf Dauer auch nicht so toll sind, haben wir uns in der Nähe der Halle eine Schwimmhalle gesucht, um ein paar Bahnen zu schwimmen. Adi zieht die Schwimmerei seit Tourbeginn ohne Gnade täglich durch und ersten Gerüchten zufolge zeigt seine Waage seit kurzem auch wieder Zahlen an.

Die Heinrich-Lades-Halle ist von außen nicht besonders schön, aber der Saal und die Bühne waren perfekt. Heute gab es wieder Komplettbestuhlung und die In Extremo-Fans applaudierten nach jedem Song artig. Doch im zweiten Showteil ließen sich die ersten, wie erwartet, wieder gehen. So langsam merkte man, dass hier irgendwie ein System dahinter steckte.

11.12., Halle/Saale - Steintor Varieté: Wenn von außen auch hässlich und unscheinbar, ist das Steintor-Varieté von innen wundervoll. Es ist wohl auch das älteste Varieté in Deutschland, wenn man der Eigenwerbung glauben darf. Nach einer Joggingrunde im Park, immer den kleinen Mistviechern ausweichend, die einem ständig versuchten, in den Unterschenkel zu beißen, war dann auch schon Soundcheck. Wenn man keine Supportband hat, ist es ziemlich ents¬¬¬pannt und man kann sich alle Zeit der Welt lassen. Manche nennen diesen Zustand auch Langeweile. Das sah auch Dr. Pymonte so und klebte sich einen riesigen Rauschebart an die Wangen. Py war damit quasi heute auch der Star des Abends.

12.12., Bochum - Christuskirche: Unsere zweite Kirche auf der Tour, aber die Location war in punkto Schönheit natürlich meilenweit von der Lukaskirche entfernt. Sagen wir mal so: Das typische Kirchenflair wollte nicht so recht aufkommen. Komischerweise war die Stimmung hier wie in Dresden von Anfang an grandios. Keine Ahnung woran das liegt, wahrscheinlich sind die Stühle in den Theatern und in den Konzertsälen wohl einfach bequemer. Wir wollten es anschließend auch mal wieder etwas bequemer haben und buchten ein Hotel in Stuttgart für unseren Off Day am nächsten Tag.

14.12., Stuttgart - Liederhalle: Unser Tourbegleiter Dirk und ich versuchten für den Sonntag irgendein Erst-, Zweit- oder gar Drittligaspiel der Fußball-Bundesliga anzusehen. Irgendetwas musste in dieser Gegend doch gehen. Doch wir hatten in dieser Gegend keine Chance, selbst Hoffenheim hatten wir in unsere Planung schon mit einbezogen, nur um mal zu zeigen, wie groß der Notstand wirklich war.

Am Montag wurden wir dann aus dem Hotel abgeholt und in die "Liederhalle" gebracht, eine moderne Konzerthalle, die aber ähnlich der in Potsdam, eigentlich für Klassikkonzerte konzipiert. Anyway, ich war gespannt, was heute passieren würde, denn die erste Reihe war wieder ein ganzes Stück von der Bühne weit entfernt. In den letzten Tagen hatte sich herauskristallisiert, dass spätestens beim 2.Stück unseres Zugabenblocks, der AC/DC-Nummer "It's a long way to the top", sich die auch im ehrwürdigsten Konzertsaal an die Bühnenkante trauen und zu tanzen anfangen. Zumindest seit Potsdam. In Stuttgart, eigentlich neben Dresden für uns seit Jahren immer mit die sicherste Bank, war es dann auch genauso. Im zweiten Teil des Konzertes erheben sich links und rechts des Saales die ersten Mutigen beim Applaudieren, dann bleiben die ersten einfach stehen. Es ist sehr schön zu beobachten, denn es ist wirklich überall dasselbe: Erst ganz links und ganz rechts, dann Stehenbleiben und je nach Gegend gemeinsames Einfinden direkt vor der Bühne - spätestens aber bei AC/DC. Ob das Thema aber genug für eine Abschlussarbeit reicht, weiß ich nicht.

Im Übrigen ist niemand in dieser Band in der Lage, sich einen Schlips zu knoten. Meine aus dem Internet heruntergeladene Beschreibung führte auch eher zu heilloser Verwirrung. Gott sei Dank besuchte uns heute Abend unser Steuerberater, der perfekte Mann für Schlipsknoten. Man musste am Ende des Konzertes nur vorsichtig genug das Teil wieder abbinden, damit der Knoten für die noch folgenden 6 Konzerte auch wieder benutzbar sein würde.

15.12., Mannheim - Capitol: Kurz nach dem Aufstehen ging es mit Boris und Adi erst einmal ins Stadtbad, um ein paar Bahnen zu schwimmen. Nicht dass die Busbetten so schlimm wären, aber den ganzen Tag mit wenig Bewegung zu verbringen ist auch nicht so toll. Das Stadtbad begrüßte uns mit der Ansage, dass der Einlass bis 13:00 Uhr der älteren Generation vorbehalten sei. Mit dem Hinweis, dass wir ja quasi altersmäßig so ein Mittelding wären, durften wir dann rein. Ein fataler Fehler, denn im Becken tummelte sich die Generation 80 plus und führte eine Art Wasserballett auf. Ich war eigentlich ganz froh, dass ich keine Schwimmbrille mit dabei hatte und übte mich ebenfalls völlig omamäßig im Brustschwimmen.

Das Mannheimer Capitol spielte in der Geschichte von In Extremo immer eine große Rolle, denn im März 1999 stand, nach einem Feuerunfall mit Michael, das Schicksal der Band in den Sternen. Wir fahren trotzdem immer wieder gern hin, auch wenn das Capitol inzwischen für die Rockshow etwas zu klein geworden ist und wir mittlerweile in den Maimarkt ausgewichen sind. Doch im Capitol zu spielen ist immer wieder schön, denn es ist eine Mischung zwischen Rockschuppen und Theater. Die Stimmung hier war in der Vergangenheit immer grandios und heute gab es im Parkett auch keine Bestuhlung. Wir fühlten uns, abgesehen von unserer Tranquilo-Titelliste, eher wie auf einem Rockkonzert.

16.12., Magdeburg - Altes Theater: Der Tag begann geradezu perfekt, denn das Schwimmbad mit dazugehöriger Saunalandschaft befand sich nur 400 Meter entfernt vom Theater. Die Sonne schien den ganzen Tag und endlich wurde es auch Winter.

Gestern in Mannheim hatten wir den größten Ticketvorverkauf der ganzen Tour, heute, nur ein Tag später, den geringsten. Keine Ahnung woran das lag, zumindest der Stimmung der knapp 500 Zuschauer tat das aber keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil, "Tranquilo" war heute Abend nicht zu erwarten, denn die In Extremo-Fans waren heute auf Feierei gepolt. In der ersten Reihe saß heute im Übrigen eine Frau im Skelettkostüm, komplett mit Maske. Wir wetteten, ob sie die Maskerade die fast 3 Stunden auch durchziehen würde, denn im Theater war es wirklich sehr warm. Doch das Gerippe gab sich keine Blöße und setzte sogar noch einen rauf, in dem es sich eine Zigarette ansteckte und den Rauch durch die Maske blies. Hut ab!

17.12., Hannover - Theater am Aegi: So langsam begann ich Schwimmhäute zu bekommen, aber Adi ließ nicht locker, weckte mich früh und wir fuhren mit dem Taxi zum örtlichen Schwimmbad. Dieses Mal war es wieder eher eine Art verranzte städtische Butze, aber gut genug für ein paar Bahnen. Dann bestellten wir uns wieder ein Taxi und der Taxifahrer versuchte irgendwie einen Zusammenhang zwischen "Schwimmbad" und "Theater" zu konstruieren. Nachdem wir ihm erklärt hatten, das wir als Pförtner dort arbeiteten, machte er seiner Enttäuschung Luft, das er keine großen Rockstars in seinem Taxi zu sitzen hatte. Er dozierte über die Vergangenheit, in der natürlich alles besser und Hannover ja quasi das Rockmekka Deutschlands war und beschwerte sich, dass sich nun Hannover in ein musikalisches Ödland verwandelt hatte und dass es ihn total nerve, jeden Tag Rudolf Schenker von den Scorpions als einen der wenigen Prominenten Hannovers in der Zeitung entdecken müsse. Und glaubt es mir oder nicht: Zurück in der Theaterkantine schlage ich die Bildzeitung auf und entdecke als erstes Rudolf Schenker!

19.12., Hamburg - Große Freiheit: Hamburg ist ja nicht die schlechteste Wahl für einen Off Day. Am nächsten frühen Nachmittag ging es dann in die "Große Freiheit", einen Laden, den die Bands meistens mögen, weil hier die Stimmung immer legendär ist, bei den Technikern wegen seiner Enge allerdings nicht wirklich erste Wahl ist.
Puck und ich suchten uns kurz vor dem Soundcheck noch eine Sky-Bar, um das Drama um Hertha BSC wenigstens live am Fernseher miterleben zu können. Gegen die Bayern würde Hertha heute nichts reißen, das war schon von vornherein klar, aber dass es gleich so peinlich werden würde, habe selbst ich mir als Union-Fan nicht gewünscht. Immerhin wohnen wir ja in der Hauptstadt...

Das Konzert wurde für uns zu einem Heimspiel, zumal die Bestuhlung leicht zu überwinden war, da sie aus Bierbänken bestand

20.12., Weimar - Neue Weimarhalle: In der Nacht ging es dann durch Schneetreiben in Richtung Süden, nach Weimar in Thüringen. Die Neue Weimarhalle war uns allerdings auch unbekannt und wir waren sicherlich auch die erste Rockband, die sich in diesen Heiligen Hallen austoben durfte. Doch zuerst ging es, wie fast täglich, in die Schwimmhalle, die sich glücklicherweise fast gegenüber befand.

Unsere Erfurter Lieblingsagentur bereitete unterdessen für alle Beteiligten eine Art Adventskaffeetrinken vor, mit Stollen und allem was dazu gehört. Eine schöne Geste, zumal währenddessen in der Küche schon Thüringer Klöße und Entenbraten vorbereitet wurden. Der dritte Tag in Folge mit Entenbraten und wir hatten, trotz aller täglichen sportlichen Aktivitäten, den Eindruck, dass wir immer fetter wurden.

Die Neue Weimarhalle klang hervorragend und es passierte das, was uns schon seit Wochen begleitete: Zwischen den Songs wurde artig applaudiert und ansonsten wurde, fast schon andächtig, der Musik gelauscht. Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, denn man denkt eigentlich, dass es den Zuhörern nicht wirklich gefällt, bevor es dann zu Beginn des zweiten Teils und ganz besonders zum Zugabenblock dann zur Sache geht. Dazu kommen dann fast schon euphorische Berichte in der Presse, bei denen man sich in stillen Momenten fragt, ob man wirklich auf derselben Veranstaltung befand. Aber wahrscheinlich hat man, wenn man das Geschehen von der Bühne aus betrachtet, wirklich einen komplett anderen Film zu laufen.

21.12., München - Alte Messe: Saukalt war es in München, nicht nur der Saal, sondern sogar die Duschen. Wenn der Tag so beginnt, bekommt man irgendwie auch selbst schlechte Laune, zumal das Catering das Mieseste seit Langem war. Aber zumindest der Kaffee funktionierte. Doch was der Laden hinter der Bühne zu wünschen übrig ließ, machte die Veranstaltung selbst wieder wett, zumal die Veranstaltung heute ausverkauft war.
Interessanterweise schlief heute ein Securitymann während des vierten Songs in der ersten Reihe ein, was die Band auf der Bühne natürlich köstlichst amüsierte. Ansonsten war die Security heute Abend nach der Veranstaltung aber noch so gnädig, die Leute nicht wie gewohnt mit dem letzten Ton aus der Halle zu jagen, sodass wir noch genügend Zeit hatten, um Autogramme zu schreiben.

Einen besonderen Akzent setzte während der Abfahrt des Nightliners noch unser Tourbegleiter Dirk, der seine Jacke unbemerkt an einer Kerze in Brand steckte. Diese wurde dann von unserem Merchandiser Puck standesgemäß mit einer Flasche Sekt und einer Tüte Chips gelöscht.

22.12., Köln - Theater am Tanzbrunnen: Der letzte Tourtag in diesem Jahr und so langsam hatte man bei allen Beteiligten das Gefühl, dass es mal wieder schön wäre, im eigenen Bett aufzuwachen. Zweit-Merchandiser Biber und ich waren heute die ersten in der Halle und waren sehr verwundert über den Geruch, der uns dort entgegenkam. Biber tippte auf Kater und während ich ihm das bestätigte, trafen wir auf den Hallenwart, der uns den Weg zum Catering wies und der plötzlich allen Ernstes behauptet, dass es hier drinnen doch schon sehr weihnachtlich (!!!) riechen würde. Das käme von der gestrigen Firmenweihnachtsfeier, verkündete er stolz. Ich verband Weihnachten eigentlich nicht mit besonderen Düften, mal abgesehen von Plätzchen und ähnlichem, aber definitiv nicht mit Kater. Andere Länder, andere Sitten eben.

Heute gaben wir noch einmal Vollgas, zumal sich insbesondere unser Sänger heute keinen Aussetzer leisten durfte, da 99 Prozent der Gästeliste auf seinem Namen kamen. Aber wir geben ja immer unser Bestes.
Eines noch zum Abschied: Wir haben ja eigentlich nichts gegen Fotoapparate oder ähnliches, aber es sieht schon extrem blöd aus, wenn man von der Bühne schaut und ein gefühltes Viertel des Publikums eine Kamera vor dem Auge hat. Warum bezahlt man über 30 Euro für eine Karte, wenn man vom Konzert selbst fast nichts mitbekommt und sich dafür einen Tag später seinen eigenen Mitschnitt in übelster Handyqualität auf Youtube reinzieht? Aber vielleicht muss man ja auch nicht alles verstehen...